Offenes Tagebuch

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Das Individualwohl als freiheitlicher Nährboden jedes Gemeinwohls

 

Inhalt

1. Das Individualwohl – der Blick von unten | 2. Das Gemeinwohl – der Blick von oben | 3. Zur Notwendigkeit von Verschmelzung und Abgrenzung | 4. Die Gleichheit als Voraussetzung der Verschmelzung | 5. Die Freiheit als Voraussetzung der Abgrenzung | 6. Die Integrität des Selbst als Anker und Nährboden | 7. Selbstschädigendes Verhalten des Individuums

Vorwort

Jede Mehrheit von Individuen (Gemeinschaft) trägt Interessenkonflikte in sich und organisiert diese. Der Organisationsrahmen fußt dabei immer auf Idealen. Ideale hier zu verstehen als vorherrschende (konkrete) bzw. anzustrebende (abstrakte) Systeme der Interessenkonfliktlösung; auch als Eigenheiten der Gemeinschaft, ausgedrückt in Bildern, Sprache, Verhaltensweisen und Emotionen. Jede Gemeinschaft lässt sich mit ihren Idealen auf einem Spektrum zwischen dem Individualwohl und dem Gemeinwohl verorten. Dabei gibt es, je nach Standort, Phänomene zu beobachten, von denen einige nachfolgend skizziert werden sollen.

Die Abhandlung plädiert für eine dichotome Ausrichtung von Gemeinschaften, also die bewusste Ausrichtung auf einen dynamischen Prozess, auf einen sich ständig neu bildenden Ausgleich zwischen Individualwohl und Gemeinwohl. Damit würden, zumindest in der Theorie, Änderungen des Systems der Interessenkonfliktlösung laufend durchdacht, versucht und als Normalität angenommen. Nach anfänglichen Turbulenzen mit einigen schnellen Systemwechseln würde sich ein fließender Übergang verschiedener, in sich verwachsener Systeme der Interessenkonfliktlösung ergeben. Infolge dieses dynamisch-blühenden Prozesses ergäbe sich eine „Meta-Struktur der Interessenkonfliktlösung“, im Bilde einer Doppelhelix.

Diese Meta-Struktur sähe nicht nur ein System vor, sondern Systemwechsel als Mechanismus, den die Interessenträger, die in einem System nachhaltig enttäuscht werden, zur Durchsetzung ihrer Interessen nutzen können. Die Idee ist es also nicht, ein striktes System der Interessenkonfliktlösung zu etablieren und mit allen Mitteln aufrecht zu erhalten, sondern „das Spiel des Interessenausgleichs“ um die Möglichkeit der Systemänderung zu erweitern. Kritiker des vorherrschenden Systems müssten dann ihr Alternativsystem der Interessenkonfliktlösung darlegen und so um Unterstützer werben. So navigieren politische Gemeinschaften seit Jahrtausenden, nur dass die Systemumbrüche meist durch harte und gewalttätige Extremerfahrungen begleitet werden. Das harte Umschlagen von einem System, beispielsweise von einem weitgehend auf das Gemeinwohl ausgerichteten System, in ein anderes System, beispielsweise ein weitgehend auf das Individualwohl ausgerichtetes System, ist für die meisten Mitglieder der Gemeinschaft nachteilig. Deswegen sollte die Konzentration darauf liegen, wie das harte Umschlagen der Systeme verhindert werden und ein freiheitlich-dynamischer Wachstumsprozess in der Gemeinschaft stattfinden kann.

Eine im Detail durchdeklinierte Gleichberechtigung der Mitglieder einer Gemeinschaft beschränkt die für die obige Idee erforderliche Freiheit. Garantierte Rechte rufen Freiheitseinschränkungen hervor. Abseits von existenziellen Grundrechten garantierte Rechte, die in ihrer Wirkung eine Gleichstellung aller Mitglieder anstreben, führen schleichend zu einem immer engeren Ordnungsrahmen und zu immer geringerem Verständnis für Verschiedenheit, denn sie wollen alle Mitglieder „gleich“ stellen. Wer etwas gleich stellen will, was verschieden ist, der muss das sich unterscheidende Individuum seiner Verschiedenheit berauben, es entmündigen, es zum Verzicht drängen, seine Verschiedenheit auszuleben. Der zunehmend engere Ordnungsrahmen stellt über kurz oder lang die Vertrauensfrage, welche die Gemeinschaft dann spaltet. Die Spaltung verläuft in der Regel danach, für wen der enge Ordnungsrahmen die wichtigsten Interessenkonflikte zum eigenen Vorteil/Nachteil löst. Vorteilig im Sinne des Persönlichkeitsprofils, des berufliches Fortkommens, der materiellen Lebensumstände etc. 

Fakt ist, eine auf Gleichstellung verschiedener Individuen gerichtete Gemeinschaft neigt zunehmend zur Überregulierung, da die unendliche Verschiedenheit mit immer neuen Ergebniskorrekturen auszugleichen ist. Irgendwann steigt in der Gemeinschaft das Bedürfnis für Abgrenzungsprozesse. Die unterdrückte Verschiedenheit als entzündeter Eiterpickel. Dabei stellen dann Individuen aktiv und kompromisslos ihre Ungleichheit in den Vordergrund. Sie wollen Aufmerksamkeit und erkämpfen Freiräume für die in der Gemeinschaft tolerierte Ungleichheit. Freiheitskämpfer. Sie erkämpfen Verständnis für (ihre) Verschiedenheit. Manche Freiheitskämpfer möchten nun ihre Verschiedenheit zur einzig tolerierten „Verschiedenheit“ machen. Dann beginnt der Abgrenzungskreislauf von vorne. 

Die Freiheit für alle ist ein immer gangbarer Ausweg. Sie ist Alternative. Sie ist das, was alle vereint, auch und gerade in Extremsituationen. In dieser vereinenden Vision verschmelzen alle Individuen. In auf das Gemeinwohl gerichteten Gemeinschaften bedarf es von Zeit zu Zeit freiheitlicher Impulse.

1. Das Individualwohl – der Blick von unten

Das Individualwohl idealisiert das Individuum. Es konzentriert sich darauf, dass alle Mitglieder der Gemeinschaft alle Interessen, die sie in sich haben, theoretisch ohne Einmischung der Gemeinschaft durchsetzen können. Herrscht in einer Gemeinschaft das Individualwohl als authentisches Ideal vor, kann jedes Mitglied ohne Einmischung der Gemeinschaft alle eigenen Interessen mit allen Mitteln durchsetzen. Das wäre das Ideal des absolut freien Individuums. Es ist absolut frei, aber in ständiger Gefahr. Zugleich kann jedes Mitglied auch in die Position gelangen, kein einziges eigenes Interesse durchsetzen zu können. Die Kehrseite absoluter Freiheit ist in Gemeinschaften die ständige Gefahr fremder Interessendurchsetzung.

Eine ausschließlich auf das Individualwohl gerichtete Gemeinschaft ist als anarchisch zu bezeichnen. Zu beobachten wäre ein Zustand der maximalen Selbstverantwortung des Einzelnen. Das Individuum löst die Interessenkonflikte mit seinen psychischen (Innenwelt) und physischen (Außenwelt) Mitteln zu seinen Gunsten oder kann sein Interesse nicht durchsetzen und verliert den Konflikt.

In dieser Organisationsform haben wir Menschen sehr lange gelebt und sie prägt unsere Physiologie, d.h. dieses System der Interessenkonfliktlösung hat in uns eine Art Landkarte abgespeichert, über die sich menschliche Organismen in der Welt orientieren. Die individuelle und kollektive Freisetzung von aufgestauter Energie in Ausnahmesituationen beruht genau darauf. Sozusagen als Ruf nach Freiheit.

2. Das Gemeinwohl – der Blick von oben

Das Gemeinwohl idealisiert die Gemeinschaft. Es konzentriert sich darauf, im Sinne der Gemeinschaft Interessen von möglichst allen Mitgliedern der Gemeinschaft durchzusetzen. Dies geht nur zu Lasten der Freiheit. Im Gegenzug verringert sich die ständige Gefahr fremder Interessendurchsetzung. 

Hierfür bedarf es Mechanismen, die bestimmen, welche Interessen wie durchgesetzt werden sollen. Es bedarf einer Interessenabwägung auf einer abstrakten (Interessen)Ebene, d.h. im Vordergrund stehen konkrete Interessen, die gegeneinander abgewogen werden, und nicht die Interessenträger.  Als ein solcher Mechanismus hat sich das Instrument des Rechts etabliert. Große Gemeinschaften organisieren sich nicht selten im Ordnungsrahmen eines Verfassungs- und Rechtsstaates und wenden das Recht gegenüber allen Mitgliedern der Gemeinschaft gleich an. Auch in Familien, Unternehmen und anderen Gemeinschaften bilden sich ganz natürlich Regeln und Ordnungsrahmen heraus. Dabei geht es beispielsweise um Fragen wie: Wer macht was? Wer darf was (nicht)? In Ordnungsrahmen, die schon lange gelten, ist das Phänomen zu beobachten, dass Individuen, die für die Gemeinschaft viel Mehrwert schaffen, etwa in dem sie etwas können, was nur wenige können und dadurch knappe Güter produzieren, dass diese Individuen auch viel dürfen. Der Großteil des Ordnungsrahmens bleibt unausgesprochen, ist für den Aufmerksamen hingegen wahrnehmbar.

Der Mehrwert kann im Innen- und im Außenverhältnis erzeugt werden. Eine Gemeinschaft ist ein dynamisches Gebilde. So kann es sein, dass Individuum A nur deswegen im Außenverhältnis hohen Mehrwert generiert, weil Individuum B im Innenverhältnis der Gemeinschaft Mehrwert generiert. („Hinter jedem starken Individuum stehen andere starke Individuen“). Zu beobachten sind allerdings auch Individuen, die nur aus sich heraus massiven Mehrwert erzeugen. Ganz alleine. Im Allgemeinen erzeugt eine Gemeinschaft mehr Mehrwert im Innen- und Außenverhältnis und damit für alle, wenn sich alle Individuen einem freiheitlichen Ideal der Gemeinschaft unterordnen, sich nach bestem Wissen und Gewissen einbringen, wenn die Individuen ihren ganz persönlichen Umkreis beobachten und sich gegenseitig dabei helfen, in die Bereiche zu gelangen, in denen sie am meisten Mehrwert für die Gemeinschaft generieren. Auf diese Weise bildet sich ein ständiger dynamischer Prozess der Interessenkonfliktlösung und Generierung von Mehrwert heraus. Die Gemeinschaft bleibt, zumindest der Theorie nach, vor allem auch in der Generationenfolge, anpassungsfähig, denn der Platz, der für die Eltern passte, passt für die Kinder vielleicht nicht mehr. Sie sollten die Freiheit haben, eigene Plätze zu suchen. Dann wächst die Gemeinschaft langfristig dynamisch-fließend entlang natürlicher Wellenbewegungen, die u.a. von anderen Gemeinschaften im Rahmen einer größeren Gemeinschaft ausgelöst werden. 

Der Ordnungsrahmen einer nur auf das Gemeinwohl gerichteten Gemeinschaft ist immer zu eng für den vollen Resonanzkörper menschlicher Interessen. Die Individuen können sich nicht voll ausleben. Sie müssen verzichten. Sie verzichten auf die Durchsetzung bestimmter Interessen, die sie sonst mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln durchzusetzen versuchen würden. Sie unterwerfen sich dem Ordnungsrahmen der Gemeinschaft. Einigen Individuen stehen Mittel zur Verfügung, die für sie in auf das Individualwohl gerichteten Gemeinschaften zu mehr durchgesetzten Interessen führen würden. Für sie ist ein auf das Gemeinwohl gerichtetes System insofern „nachteilig“. Ihr Hinzugewinn, wenn sie verzichten, ist die Verringerung der ständigen Gefahr fremder Interessendurchsetzung. 

Für Einige der Einigen ist dieser Hinzugewinn (Sicherheit) aber nicht viel wert. Sie spielen gerne ´Alles oder Nichts´, wollen ihre Mittel testen. Diese Gruppe kann je nach Situation und Ausgestaltung des Mechanismus deutlich größer werden. Sie schauen auf die Ergebnisse des Mechanismus und fühlen sich durch den Mechanismus beschränkt. Ihr Gefühl täuscht nicht. Die Regeln des Ordnungsrahmens beschränken ihre Interessendurchsetzung. Das erfolgt systematisch. Das ist allen in der Gemeinschaft immer wieder vor Augen zu führen. Dafür, dass sich diese Gruppe auf den Ordnungsrahmen einlässt, erhält sie von allen Mitgliedern Anerkennung und die Freiheit zur hinreichenden Abgrenzung.

Dieser Gruppe den Umstand zu verschweigen oder sie darüber täuschen zu wollen, dass ihre Mittel der Interessendurchsetzung nichts wert oder verachtenswert seien, ist keine langfristige Lösung des systemimmanenten Interessenkonfliktes. Denn bei einer Täuschung entsteht die latente Gefahr, dass die getäuschten Individuen es erkennen, Vertrauen in den Mechanismus verlieren und sich aller zur Verfügung stehenden Mittel bedienen, um nun ausschließlich ihre eigenen Interessen durchzusetzen. In diesem Fall kann eine auf das Gemeinwohl ausgerichtete Gemeinschaft schlagartig in den Zustand einer Ausrichtung auf das Individualwohl kippen. Es ist daher Gemeinschaften, die sich auf das Gemeinwohl ausrichten, zu empfehlen, den Ordnungsrahmen durch ehrliches Offenlegen aller Umstände von jeder Generation bestätigen und annehmen zu lassen. Hierfür muss vor allem die beschriebene Gruppe der Einigen sich ihrer Mittel bewusst werden und sodann vollinformiert zustimmen. Es wäre eine Art Initiationsritual jeder Generation auf den Mechanismus der Interessenkonfliktlösung (Gemeinschaftsvertrag).

Dabei wäre die freiheitliche Ausrichtung auf das Individualwohl als Alternative ehrlich zu beleuchten und damit anzudeuten. Andernfalls steigert sich die latente Gefahr der Aufkündigung des Vertrages. Es ist zu beobachten, dass Umbrüche nach der Aufkündigung von Verträgen und das Verlassen von Ordnungsrahmen für sehr viele Mitglieder negative Konsequenzen haben. Häufig wird ein Großteil des in der Gemeinschaft bis dahin erzeugten Mehrwertes im Ergebnis zerstört. Der Mehrwert in Gemeinschaften folgt dem aus der Ökonomie bekannten, sogenannten Zinseszinseffekt. Mit der Zeit entsteht tradierte Kultur. Jene Idee ist auf Familien, Unternehmen und alle sonstige Gemeinschaften anwendbar. Abgelaufene Zeit und gemeinsame intensive Erfahrungen potenzieren den Mehrwert.

3. Zur Notwendigkeit von Verschmelzung und Abgrenzung durch den antizyklischen Kämpfer

Ein nur auf das Gemeinwohl gerichteter Organisationsrahmen ist nicht kompatibel mit dem Ideal des absolut freien Individuums. Stattdessen beschränkt er systematisch alle Individuen in ihren Mitteln der Konfliktlösung und erwirkt beispielsweise, dass Individuen die Gewaltausübung als Mittel der Interessendurchsetzung an den Organisationsrahmen abgeben (Gewaltmonopolisierung). Dadurch verringert sich, zumindest der Theorie nach, die Gewalt in der Gemeinschaft; und damit die ständige Gefahr fremder Interessendurchsetzung durch Gewalt. 

Bislang wird jener Gewaltbegriff primär physisch verstanden, ein Individuum verletzt die körperliche Integrität anderer Individuen, setzt seine Interessen mit dem Instrument physischer Gewalt durch. Der Gewaltbegriff ist nun zu erweitern, vor allem um die Einwirkungen auf die psychische Integrität von Individuen. So wie ein Individuum körperliche Gewalt zur Interessendurchsetzung anwenden kann, so kann es auch psychische Gewalt oder beides parallel für eigene Zwecke instrumentalisieren. 

Ein Grund, warum sich Individuen in Gemeinschaften organisieren, ist die Eindämmung der Gefahr fremder Interessendurchsetzung mit allen Mitteln und der mit dieser Gefahr verbundenen Emotionslage (Angst). Das sich in Gemeinschaften organisierende Individuum strebt einen Zustand an, in dem es mit einem bestimmten Verhalten der anderen Individuen rechnen kann (vertraute Sicherheit), zugleich aber, auf dem Fundament der vertrauten Sicherheit, die Freiheit zur Realisierung von individuellen Wachstumspotenzialen durchgängig erhalten bleibt. Hierfür bedarf es eines in großen Teilen dynamischen Ordnungsrahmens, der diese Idee als ständige Abwägungsaufgabe in sich aufnimmt. Die Abwägung erfolgt strukturell zwischen Sicherheit und Freiheit. Wer ein starkes Sicherheitsbedürfnis hat, sucht verbindende Anknüpfungspunkte zu anderen Individuen, um mit ihnen einen strikteren Ordnungsrahmen als den vorherrschenden zu etablieren. Die Individuen verschmelzen zu  einer neu formierten Gemeinschaft (innerhalb anderer und/oder größerer  Gemeinschaften) unter der Mission „mehr Sicherheit“ und entwickeln unter dieser Flagge gemeinsame Interessen, die sie nun als Gemeinschaft durchzusetzen versuchen. Auch im Alltag bilden sich auf diese Weise ständig neue Interessengemeinschaften, so etwa bei Entscheidungen in der Familie, welche Aktivität gemeinsam unternommen werden soll, etc. 

Gegenläufiger Wirkmechanismus zur Verschmelzung ist die Abgrenzung und damit Auflösung von bestehenden Interessengemeinschaften. 

Jedes Individuum und jede Gemeinschaft sollte die Fähigkeit haben, beide Wirkmechanismen einzusetzen, wenn es die Situation erfordert. 

Weil Individuen komplexe dynamische Organismen sind, potenziert sich die Interessenausgleichsdynamik innerhalb der Gemeinschaft mit jedem Mitglied, das hinzukommt. Dabei gilt: Die Dynamik erhöht sich umso mehr, umso mehr ein Mitglied im Vergleich zu den anderen Mitgliedern abweichende Interessen und Verhaltensweisen zeigt (Abweichler). Denn die Abweichungen erfordern den Aufwand der anderen Mitglieder, alle Abweichungen und deren Auswirkungen auf die Interessenkompromisse in der Gemeinschaft neu auszutarieren. Abweichler erhöhen die Gefahr unvorhergesehener Interessendurchsetzung und stellen jeden gefundenen, in der Gemeinschaft vorherrschenden Interessenausgleich in Frage. Das gehört zu dieser wichtigen Rolle, die das Individuum einnehmen kann. Dabei grenzen sich Individuen von einer Interessengemeinschaft ab und stellen ihre Andersartigkeit den anderen Individuen in der Gemeinschaft dar. 

Dann kann sich folgendes interessantes Phänomen ereignen: Zunächst wehrt sich die Gemeinschaft und will den Abweichler mit allen Mitteln ausgrenzen, um ihn so zur Rückkehr in den Ordnungsrahmen zu bewegen. Es ereignet sich ein Machtkampf zwischen der Gemeinschaft und dem Abweichler, dem die Frage zu Grunde liegt, ob der Abweichler es schafft, diese Position auch ohne den Schutz vertrauter Sicherheit durch die Gemeinschaft innerlich ausgeglichen zu halten. Wenn er es schafft, beweist er damit, dass diese Position auch von den übrigen Gemeinschaftsmitgliedern eingenommen werden kann und erweitert so das Spektrum der Interessenausgleichsmöglichkeiten. Er sichert dadurch Gestaltungsspielraum und Freiheit. Mehr noch, in der Regel zeigt er der Gemeinschaft Wege auf, die zu einem optimaleren Interessenausgleich führen, d.h. einer Situation, in der im Ergebnis mehr (bewusste und gar bislang unbewusste) Interessen der Individuen in der Gemeinschaft durchgesetzt werden. Wer es schafft, der Gemeinschaft diesen Mehrwert, bewusst oder unbewusst, zu verdeutlichen und damit Wachstumstreiber bereit zu stellen, erhält hierfür einen deutlich herausgehobenen Status und knappe Güter im Überfluss, während die Gemeinschaft den neuen Toleranzbereich direkt in den Ordnungsrahmen einwebt.

Verschmelzungs- und Abgrenzungsvorgänge sollten in Gemeinschaften ungefähr ausgeglichen stattfinden. So erschließt die Gemeinschaft über Abgrenzungsvorgänge fortlaufend Wachstumspotenziale, die es ihr ermöglichen, mit den natürlichen Wellenbewegungen zu wachsen, und strukturell nicht stehen zu bleiben, sondern sich innovativ-anpassend aus sich heraus zu erneuern, schafft es gleichzeitig aber dennoch über Verschmelzungsvorgänge die Gemeinschaft zusammen zu halten und als großes Ganzes zu bewahren.

Bei einem deutlichen Übergewicht an Verschmelzungsvorgängen wird die individuelle Freiheit zunehmend eingeschränkt bis das Individuum auf sein Minimum an Individualität reduziert ist, d.h. bis der Ordnungsrahmen dem Individuum durch sämtliche Mittel verdeutlicht, dass seine Verschiedenheit nicht erwünscht ist. Nochmal klarstellend: Als Ordnungsrahmen gelten nicht nur gesetzliche Regelungen, sondern die Gemeinschaft setzt den Ordnungsrahmen über verschiedene Mittel, so etwa über Körpersprache jeder Art und Schubladen-Narrative.  

Bei einem deutlichen Übergewicht an Abgrenzungsvorgängen wird der Bereich vertrauter Sicherheit zunehmend brüchig und die progressiven Abweichler erschließen derart viele Wachstumsbereiche, dass viele Individuen und damit auch die Gemeinschaft als Ganzes die Orientierung verliert, in welche Richtung die Gemeinschaft nun wächst. Dabei kann es dann, insbesondere in Zeiten technologischer Umbrüche, in denen sich fast überall Wachstumspotenziale erschließen lassen, zur Spaltung der Gemeinschaft kommen. Ein Teil sagt etwa: „Halt, wir bleiben zurück, wir wissen nicht, was kommt, wir machen alles wie bisher.“ Ein anderer Teil denkt: „Egal, wir müssen die neuen Chancen nutzen, sonst machen es andere, im Zweifel bauen wir uns eine neue Gemeinschaft.“ 

Beide Zustände des Übergewichts führen zu problematischen Situationen in der Gemeinschaft, die nur durch tiefgreifende Auseinandersetzungen und meist einem Übergewicht der Gegenvorgänge zu lösen sind. Nach und nach pendelt sich die Gemeinschaft wieder in die Ausgeglichenheit.

Dennoch sind die von Abweichlern ausgehenden Abgrenzungsprozesse zwingend notwendig, damit sich der Ordnungsrahmen erneuern kann und die Wachstumspotenziale in der Freiheit erschlossen werden können. Es sind Abweichler, die den Ordnungsrahmen durch Abgrenzungsprozesse fortlaufend derart entwickeln, dass ein Tiefenwachstum des in all seiner Komplexität verschiedenen Individuums innerhalb der Gemeinschaft möglich ist. Abweichler erkämpfen Freiheit. Freiheit für alle. Es sind Konformität liebende Nicht-Abweichler, die den Abweichlern Bereiche vertrauter Sicherheit bereit stellen, einen Nährboden ihres Wachstums, beispielsweise ein biederes Elternhaus voller Enge, Liebe und Vertrauen. 

Der Abweichler kann nicht ohne den Nicht-Abweichler und der Nicht-Abweichler nicht ohne den Abweichler. Ob sie es wollen, oder nicht.

Abweichler brechen Ordnungsrahmen meist kraftvoll auf und erkämpfen neue Spielräume geschützter Sicherheit für die Gemeinschaft insgesamt. Sie brechen Toleranzbereiche auf, die andere nach ihnen erschließen. Abweichler haben die Aufgabe, der Gemeinschaft zu zeigen, welche Auswirkungen das Ausleben ihrer abweichenden Verhaltensweisen in der Gemeinschaft hat und ob diese vertrauenswürdig sind, um sie in den Ordnungsrahmen erweiternd aufzunehmen. Sie wirken der Tendenz des zu engen Ordnungsrahmens entgegen und beugen einem „Vakuum des Stilstandes“ vor, das bei einem Übergewicht an Verschmelzungen entsteht. Sie verringern das Vakuum und damit die Wahrscheinlichkeit des Eintritts einer Situation, in der eine große Anzahl von Mitgliedern den Ordnungsrahmen nachhaltig als zu eng empfindet, plötzlich voller Vehemenz auflöst und einen Umbruch hin zum Individualwohl einleitet. 

Der Abweichler nimmt in diesem, in der Gemeinschaft stattfindenden dynamischen Prozess eine bedeutende Rolle ein. Es ist die Rolle des „antizyklischen Kämpfers“. Er kämpft gegen den Zyklus, als David gegen Goliath, er kämpft um die Dynamik in der Mitte der Gemeinschaft. Er zieht die Aufmerksamkeit der Gemeinschaft auf sich und lenkt sie auf die bislang nicht vom Ordnungsrahmen erfassten Wachstumspotenziale. Spot on.

Abweichler arbeiten so ständig an den Grenzen des Ordnungsrahmens, sie spiegeln den gefundenen Interessenausgleich in der Gemeinschaft und versuchen ständig alternative Konfliktlösungen, um mehr Interessen durchzusetzen und den Interessenausgleich zu optimieren. Deswegen arbeiten sie meist, zumindest anfänglich, an Orten, an denen Interessen nicht im Überfluss durchgesetzt werden. Denn hier gibt es Arbeit für sie. Sie nehmen andere Perspektiven ein und führen ihre Erkenntnisse und Ideen der Gemeinschaft vor die Sinne. Abweichler befinden sich im ständigen Wechsel aus Verschmelzungs- und Abgrenzungsprozessen mit der Gemeinschaft. Sie erweitern und sichern die langfristige Freiheit der Gemeinschaft, indem sie alternative Interessenkonfliktlösung authentisch versuchen. Diese Aufgabe ist physisch, psychisch und emotional herausfordernd, sie erfordert den konstanten Umbruch, einen konstanten Wechsel der Visionen. Für diese Aufgabe ist nicht jeder gemacht. Das ist schwere Arbeit. Denn es sollte nicht verschwiegen werden, dass Abweichler in aller Regel kalt ausgegrenzt werden. Sie stellen die Gemeinschaft, die validiert und nicht in Frage gestellt werden will, in Frage. Sie tun es als Teil der Gemeinschaft. Sie sind absolut gesehen in der Minderheit und sollten, solange sie gewaltfrei agieren, ihr häufig erlittenes Leben als anerkanntes Mitglied der Gemeinschaft verbringen können. Der Ordnungsrahmen sollte ihre spezielle Rolle daher schützen und anerkennen. 

Wenn Gemeinschaften der Gefahr fremder Interessendurchsetzung durch Gewalt dadurch vorbeugen, dass Institutionen im Ordnungsrahmen das Gewaltmonopol inne haben, wäre es naiv zu glauben, dass die Impulse zur gewalttätigen Interessenkonfliktlösung in den Individuen damit aus der Welt wären. Sie sind in allen Individuen weiterhin vorhanden. Wir spüren sie psychisch und unsere Körper erleben sie physiologisch. Bei jeder Entscheidung des Mechanismus gegen uns, ballen wir die Faust in der Tasche. Deswegen benötigen wir Gründe, warum der Mechanismus auch für uns positiv wirkt. Diese Gründe versuchen wir dann rational nachzuvollziehen und in uns den Impulsen entgegen zu setzen. Der Interessenkonflikt wird auf diese Weise, nun im Individuum, noch einmal nachvollzogen, so dass der Organismus des Individuums eine eigene Abwägungsentscheidung trifft und die Konfliktlösung entweder akzeptiert oder als „offen“ abspeichert. Mit dem hab ich noch ein Hühnchen zu rupfen! Ein ausgeglichener Organisationsrahmen sollte das Nachwirken der Konfliktlösung in den Individuen berücksichtigen.

Es gilt also innerhalb der Gemeinschaft Plätze zu schaffen, an denen die physischen und psychischen Grenzen ausgetestet werden können. Dort kann sich jedes Individuum, im Idealfall unter Anleitung erfahrener Mitglieder, der eigenen Grenzen bewusst werden, indem die Impulse ausgelebt werden. Vom Boxring über den Sportplatz zur Mathe-Olympiade bis hin zur Musikbühne. Die Impulse sind nichts anderes als Energie im Körper. Sie wollen Austausch mit anderen Energieträgern. Aus Sicht der Gemeinschaft kann die Energie gut genutzt werden, wenn Plätze für den Energieaustausch wie beschrieben organisiert werden. Wenn nun aber, warum auch immer, der Energieaustausch nicht stattfindet, dann staut sich die Energie auf und sucht sich früher oder später (unkontrolliert) einen Weg der Entladung. Das kann dazu führen, dass Individuen so viel aufgestaute Energie in sich tragen, dass sie nichts anderes wollen, als den Ordnungsrahmen der Gemeinschaft zu zerstören. Warum? Tja, ist es die Verantwortung des jeweiligen Individuums oder der Gemeinschaft? Letztlich von beiden. Will die Gemeinschaft solche Situationen in Zukunft so gut es geht verhindern, sollten die Individuen die Freiheit haben, sich Orte und Stellen zu suchen, an denen sie ihre Energie nicht leugnen müssen, sondern so einsetzen können, dass sie Mehrwert für alle generieren und dafür Anerkennung erhalten. Letztlich läuft es in Gemeinschaften auf die Frage hinaus: Kann die Gemeinschaft in sich eine ausgeglichene Dynamik der Interessenkonfliktlösung entfalten, d.h. einen gesunden Energieaustausch unter den Mitgliedern.

Während das Individualwohl das Individuum mit dem vollen Resonanzkörper der Interessen annimmt und die Interessendurchsetzung in die Verantwortung des Individuums stellt, begnügt sich ein nur auf das Gemeinwohl gerichtetes System der Interessenkonfliktlösung mit einem begrenzten Bereich ausgelebter Interessen im Individuum. Dabei gilt: Je mehr Individuen ein bestimmtes Interesse teilen, desto wahrscheinlich ist es, dass die Durchsetzung dieses Interesses in den Bereich geschützter Sicherheit fällt. D.h. zugleich, je seltener ein Interesse in den Individuen der Gemeinschaft vorkommt, desto wahrscheinlicher ist es, dass es ausgegrenzt wird. Verschiedenheit wird in Gemeinschaften tendenziell ausgegrenzt. In aller Regel hat jedes Individuum Interessen in sich, die in den Bereich geschützter Sicherheit fallen und andere, die nicht in diesen Bereich fallen. Jedes Individuum ist daher mit bestimmten Interessen ausgegrenzt und grenzt in aller Regel zugleich andere Individuen aus, wenn sie Interessen haben, die nicht in den Bereich geschützter Sicherheit fallen. Folglich wird es immer und in jedem System der Interessenkonfliktlösung Ausgrenzung geben. Es liegt in der Natur der Sache, dass nicht alle Interessenträger alle Interessen im Konfliktfall durchsetzen können. Deswegen hilft es wenig, den Bereich geschützter Sicherheit über den Ordnungsrahmen so weit auszudehnen, dass alle Interessen hineinfallen. Denn dann besteht kein Ordnungsrahmen mehr und das System ist unter dem Deckmantel des Gemeinwohls tatsächlich auf das Individualwohl gerichtet.

4. Die Gleichheit als Voraussetzung der Verschmelzung

Die Verschmelzung kann als Prozess zur Interessenkonfliktlösung genutzt werden, wenn sich eine Situation ergibt, die Interessenkonflikte in sich trägt, zugleich aber die Möglichkeit bietet, einen Gleichlauf von Interessen, die sonst nicht durchgesetzt werden könnten, herzustellen. Dann wird das Verbindende, der Interessengleichlauf, als wesentliches Element abstrahiert und als gemeinsame Vision (Mission) angestrebt.

Individuen schlüpfen unter die Vision, bekennen sich und idealisieren die damit durchgesetzten Interessen. Gleichzeitig sind Interessenkonflikte vorhanden, deren Lösung unter dem Dach des zur gemeinsamen Vision verschmolzenen Interessengleichlaufs, anders angegangen und verhandelt werden kann. Gerade durch das Dach der gemeinsamen Vision können nun, innerhalb des durch das Dach geschützten Bereiches, Vergleiche der durchgesetzten Interessen angestellt werden. (Du hast dort deine Interessen durchgesetzt, jetzt will ich hier meine Interessen durchsetzen). Die vergleichende Interessenabwägung ist überhaupt nur möglich, sofern sich die Individuen zuvor in einen Prozess der Verschmelzung von gleichgerichteten Interessen zu einer Vision begeben haben, die dann als Ankerpunkt der Interessenabwägung dient.

Ohne Vision fehlen die für Vergleiche erforderlichen gemeinsamen Bezugspunkte des Rahmens, von dem aus die Standorte der Individuen samt deren Bilanz durchgesetzter Interessen überhaupt erst bestimmt werden können. Wer Vergleiche anstellen will, muss sich zuvor auf einen gemeinsamen Bezugspunkt einigen. Die bewusste oder unbewusste Einigung auf die gemeinsame Mission setzt die Verschmelzung von gleichgerichteten und insofern gleichgewichteten Interessen voraus. 

Dies gilt nur dann nicht, wenn sich jemand der Einigung tatsächlich nicht entziehen kann. Wenn also ein Zwang zur Einigung besteht. In diesem Fall fehlt es an der Gleichheit der Interessen und der Interessenträger. Der von außen wirkende oder auch der innerlich empfundene Zwang zur Verschmelzung verändert Interessen und Interessenträger, er beschränkt sie, in ihrer Freiheit zur Einigung und damit in ihrer Gleichheit, wodurch dann der Prozess der Verschmelzung und infolgedessen die gemeinsame Mission verändert wird. Die Verschmelzung ist erzwungen, verknotet, nicht authentisch und unästhetisch. Das spüren empfindsame Wesen. Sie empfinden die „Ausstrahlung“ der gemeinsamen Mission als Produkt der Verschmelzung als emotional unästhetisch. So wirken viele Individuen, Paare oder Unternehmen unästhetisch, weil ihre Mission erzwungen ist. Daher ist die Gleichheit zwingende Voraussetzung jedes ästhetischen Verschmelzungsprozesses. Die Gleichheit in der Entscheidung für oder gegen die Vereinigung, für oder gegen die gemeinsame Vision, für oder gegen den gemeinsamen Ordnungsrahmen. 

5. Die Freiheit als Voraussetzung der Abgrenzung

Die Abgrenzung kann als Prozess zur Interessenkonfliktvorbeugung genutzt werden, wenn sich eine Situation ergibt, die Interessenkonflikte in sich trägt, aber die gemeinsame Vision, in deren Rahmen die Konflikte zu lösen wären, keinen oder nur einen unausgeglichenen Interessengleichlauf enthält. In diesem Fall entbindet sich das Individuum von der gemeinsamen Vision und grenzt sich ab. Hierfür benötigt das Individuum Freiheit, um sich, möglichst ohne zwanghaft beschränkende Einmischung der Gemeinschaft, zu entkoppeln, im vollen eigenen Resonanzkörper neu zu verorten und sich so für neue Visionen zu öffnen. Wenn diese Freiheit zur Abgrenzung nicht besteht, bleibt das Einlassen auf neue Visionen von vorneherein beschränkt, vor allem in der intrinsischen Motivation die neue Vision zu fördern, d.h. vor allem in den individuellen Tiefendimensionen.

6. Die Integrität des Selbst als Anker und Nährboden transformativen Wachstums

Das Selbst hier zu verstehen als großes Zentrum der Persönlichkeit des Individuums. Nach der Analytischen Psychologie zu verstehen als ein Zentrum der menschlichen Psyche. Die Integrität des Selbst sodann zu verstehen als für das Individuum emotional ästhetischen Zustand, in dem das eigene Handeln in tatsächlich-harmonischer Verbindung mit dem hinreichend erschlossenen individuellen menschlichen Resonanzkörper steht und nach innen wie nach außen authentisch wirkend ausstrahlt.

Wer sich als Individuum in einem solchen Zustand befindet, der kann sein Handeln entlang der Aufrechterhaltung der emotionalen Ästhetik ausrichten und sich so auf sein Selbst verlassen. Dieses Individuum hat eine individuelle emotionale Verhaltensethik entwickelt, es ist entknotet, konkreter gesagt, es wirkt im Einklang mit der individuellen emotional ästhetischen Bestimmung als authentischer Verantwortungsträger. D.h. nicht, dass es keine negativen Emotionen empfindet. Aber es erlebt sie als Teil des Ganzen, als Teil der Totalität. Das in diesem Zustand seiende Individuum hat sein inneres Gottesbild gefunden, es hat sich erschlossen und gefunden, es ist bei sich. 

Das Bild kann wieder verloren gehen. Die Aufrechterhaltung des Zustandes ist also ein Dauerauftrag, den das Leben an das Individuum stellt. Diese Aufrechterhaltung verlangt von Zeit zu Zeit transformatives Wachstum. Eine Häutung. Die Impulse zu transformativem Wachstum gehen von dem Selbst aus, jedenfalls werden sie dem bewussten Ego des Individuums über die Verbindung zum Selbst gesendet. Wenn das Selbst nun aber in der Lage ist, das Ego des Individuums derart transformativ zu verändern, durch Impulse das transformative Wachstum auszulösen, dann kann es keine statische Masse sein, es muss sich ändern können, auf Signale des Egos reagieren, anpassungsfähig und flexibel sein, kurz: es muss ein Eigenleben haben. Die Brücke zum Selbst kann verloren gehen, Selbst und Ego leben dann getrennt, ganze Menschenleben lang. Sendet das Selbst dann keine Signale oder weiß das Ego sie nicht zu deuten? Was macht das Selbst, wenn ganze Gemeinschaften es ignorieren? Wie kompensiert es diese Ego-Inflation?

Irgendeine Kraft treibt es dazu, die Verbindung herstellen zu wollen. Es sendet immer heftigere Impulse, grenzt sich im Individuum ab, weil es unterdrückt wird, es wird zum entzündeten Eiterpickel und irgendwann passiert es und das Ego blickt in den Spiegel und erkennt die Augen der großen Mutter. Diese Begegnung passiert bislang scheinbar in einzelnen Individuen, in denen sich ganze Umbrüche, sozusagen das transformative Wachstum ganzer Gemeinschaften manifestieren. Wenn diese Individuen die Verbindung und Verschmelzung aushalten können, dann können sie die massive Energie des Selbst nutzen und über die Verbindung zum Ego in die Außenwelt als Starkstromstöße transportieren. Die Erzeugnisse aus den Starkstromstößen sehen wir überall in zeitlosen Spitzenleistungen.  Ihre Besonderheit ergibt sich aus der in ihnen konzentrierten Energie, die in der Außenwelt skalierbar, d.h. beständig und lange abrufbar ist.  

Wenn das Individuum die vom Selbst entworfenen Wachstumspfade geht und die Vertrauensbeziehung hält, gelangt es in den Zustand emotionaler Ästhetik. Das ist der Deal. Es gelangt dort hin, in dem sich bewusstes Ego und Selbst in ihm als abgrenzbare Interessenträger begegnen, dann verschmelzen sie und entwickeln eine gemeinsame Vision (Mission), das entknotete, als emotional ästhetisch empfundene Individuum. 

Weiter bin ich noch nicht. Wer diese Gedanken nicht mitgeht, kein Problem, ich weiß, es ist abstrakt und klingt abweichend, so dass die erste Reaktion Ausgrenzung ist, aber ich muss es darstellen. Wenn ihr Selbst nicht reagiert, lesen sie einfach was anderes. 

7. Selbstschädigendes Verhalten des Individuums

Nach all dem bleibt konsequenterweise zusammenzufassen, dass jenes Verhalten, welches nicht in diesen Zustand führt, oder nicht zu dessen Aufrechterhaltung, als selbstschädigendes Verhalten zu qualifizieren ist. Also im Grunde zur Verhinderung der eigenen Existenz in der Dimension der Ewigkeit beiträgt.

Diese Worte dürfen nicht zu streng ausgelegt werden, Maßstab und Anspruch sind (wahrscheinlich) zu hoch. Es bleibt zunächst ein Ideal. Ich schreibe aber auch für die Zukunft. Vielleicht können sich unsere Ururenkel als Gemeinschaft damit beschäftigen, was wir machen können, diesen Anspruch in ein konkretes Bildungsideal der Gemeinschaft zu integrieren. Die Energieübertragung beim (Wieder)Finden des Selbst kann sehr hoch sein. Die Freiheit muss für jeden der Ausweg bleiben, um sich abgrenzen zu können, wenn sich das Selbst mit der Aufforderung zur Abgrenzung an das bewusste Ego des Individuums wendet. Und diese Freiheit müssen wir alle für jedes Individuum gewährleisten und mit Herz und Verstand voller Respekt und Toleranz gemeinsam ertragen.

Das Verlangen in unserer Gemeinschaft nach detailliert durchdeklinierter Gleichstellung von in uns Verschiedenem ist selbstschädigend, es hat kultursuizidale Züge angenommen.

Verständnis für Verschiedenheit.

 
Cornelius AldersEssay