Offenes Tagebuch

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Der Turmbau zu B

I.

Eines Abends, bei Sonnenuntergang, treffen sich Titus Transformation, Lupo Lügner und Zerberus Zarathustra am Fuße des höchsten Turmes der Stadt und schauen ehrfürchtig hinauf. Der Turm ist so hoch, man sieht die Spitze kaum, und wenn man sie sieht, dann nur bei schönem Wetter, aber selbst dann nur verschwommen. Das, was man von der Turmspitze weiß, weiß man von den Wenigen, die meinen, ganz oben gewesen zu sein. Die Wenigen teilen sich in zwei Gruppen. Eine Gruppe, die von der Spitze berichtet, und eine schweigsame Gruppe, die sich mit ihrer vermeintlichen Erfahrung weit zurückzieht. Lupo Lügner gehört zu den Berichtenden. Zerberus Zarathustra zu den Schweigenden. Titus Transformation versucht zu vermitteln.

II.

Nur einmal seit der Turmbau begann, trat einer aus der schweigsamen Gruppe und sprach: „Die, die von der Spitze berichten, waren nie ganz oben.“ Es war Zerberus Zarathustra. Die Stadt war verwirrt. Wenn das stimmt, dann wäre alles, was man von der Turmspitze wusste, unwahr. Nein, dachte die Stadt und legte es aus als Scherz aus Schmerz, manche betrachteten ihn voller Mitleid, andere voller Zorn, wieder andere unterstellten Hochstapelei, weil er mit seiner Aussage suggeriere, selbst ganz oben gewesen zu sein. Nur die Berichte der Berichtenden wurden vorerst nicht angezweifelt, hätte das Zulassen der Zweifel zwingend zur Konsequenz gehabt, Alternativen zumindest zu durchdenken. Zerberus Zarathustras Zweifel blieben. Dann, plötzlich, zweifelte die Stadt. Warum? Eine Lappalie als Zündfunke. Was, wenn die Turmspitze anders aussah? Was, wenn die Berichtenden nicht ganz oben gewesen sind? Was, wenn noch niemand ganz oben war? Wer könnte berichten? Die Schweigsamen schweigen. Die Berichtenden berichten. Zumindest einer muss von der Spitze berichten können. Wer hat denn die Wände gegossen?

III.

Der Turm ist verwinkelt gebaut, er weckt Interesse, nur von außen hineinschauen kann man nicht. Obwohl er aus Glas gebaut ist, hat er dennoch keine Fenster. Wer mehr wissen will, muss sich hinein begeben. Das, was man von den festgetrampelten, innenliegenden Treppenstufen weiß, weiß man von den Wenigen, die meinen, das Treppenhaus zu kennen. Die Wenigen teilen sich in zwei Gruppen. Eine Gruppe, die von dem Treppenhaus berichtet, und eine schweigsame Gruppe, die sich mit ihrer vermeintlichen Erfahrung weit zurückzieht. Lupo Lügner gehört zu den Berichtenden. Zerberus Zarathustra zu den Schweigenden. Titus Transformation versucht zu vermitteln.

IV.

Nur einmal seit der Turmbau begann, trat einer aus der schweigsamen Gruppe und sprach: „Dieser Turm wird bald einstürzen.“ Die Stadt lachte. Einstürzen, unser Turm? Nein. Nur weil keiner von der Spitze berichten kann, muss er noch nicht einstürzen. Wir bauen doch die ganze Zeit so kräftig dran. Der ist so solide, der wird niemals einstürzen. „Doch,“ sagte der Schweigsame, „er wird einstürzen, noch bevor er fertig ist.“ Die Stadt krümmte sich vor Lachen, pumpte sie doch seit Jahrzehnten jeden Tag Beton in den Turm. Die Wände seien so dick, die halten Erdbeben, Sturm und Gewitter aus, was soll diesen Turm zum Einsturz bringen. „Lacht, analysiert, zweifelt, handelt oder nicht. Der Turm stürzt ein. Es ist zu viel Beton in den Wänden.“ Die Stadt lachte. Zu viel? Nein, die Wände müssen Stürme und Gewitter aushalten, die müssen so dick sein. „Es ist zu viel Beton in den Wänden, wir können von außen nicht hinein schauen. Der Turm hat weder Fenster noch Ausgang und ob er oben offen ist, weiß keiner. Die frische Luft im Turm wird knapp werden. Wisst ihr eigentlich, wo all der Beton herkommt, der seit Jahren in den Turm fließt?“ Die Stadt war verwundert über diese Frage, schmunzelte über Zerberus. Beton wird gemischt. Wir verwenden Wasser aus dem Fluss, Kies aus der Kiesgrube und Zement aus dem Zementwerk, dann kommt alles in den Mischer und schon haben wir Beton.

Da sprach Zerberus: „Erst gestern war ich beim Fluss, kein Wasser war darin. So schritt ich zu Kiesgrube und Zementwerk, doch niemand war vor Ort.“ Die Stadt war sprachlos. Gestern war auch Feiertag. Da sprach Zerberus: „Erst gestern war ich hier am Turm und sah den Schläuchen nach, die weit nach oben reichen und wohl die Wände gießen. Ich ging zu deren Quelle und war verwundert wie ihr jetzt, die Schläuche, die Beton in die dicken Wände pumpen, stecken im Erdboden. Ich habe einen frei geschaufelt und die Quelle des Betons, ihr werdet es nicht glauben, ist das Fundament des Turmes. Der Einsturz wird jeden Tag wahrscheinlicher.“

V.

Damals brach in der Stadt Panik aus. Da stimmte ein Stadtbewohner nach dem anderen in den Chor ein: „Alle versammeln sich am Turm, sofort.“ Erst dann wagten die Stadtbewohner den Blick auf die Anzeigetafel und der Ergebnisbericht enttäuschte alle.

VI.

Was tun mit dem Turm, war die Frage der Stunde. Die Berichtenden durften nicht mehr berichten, zu groß waren die Zweifel. Die Schweigsamen schwiegen. Da brüllte ein Stadtbewohner: „Ich sehe drei Möglichkeiten, in den alten Turm Fenster und Ausgang einbauen, einen neuen großen Turm bauen, viele kleine Türme bauen. Ist mir eigentlich egal, Hauptsache wir bauen dieses Mal vernünftig und lassen uns nicht wieder verarschen.“