Offenes Tagebuch

creative writing

 

Wilhelm II.: Roatrip alter Schul(d)freunde

 

Wolfgang Weltretten („Wolle“), Dick Druff („Druffi“) und Wilhelm der Weise („Willy“) treffen sich in Wolles Wohnung, um einen Roadtrip zu unternehmen. 

Vatertag 2020. Drei Männer. Ein Salat.

Druffi: „Och nee, Wolle, ganz ehrlich, nur Grünzeug. Ich bin doch kein Hase. Ich dachte, du wolltest kochen? Hätte ich das gewusst, wäre ich zu Moni gefahren, die Mädels machen Schweinebraten. Ich hab Hunger! Ich hätte es wissen müssen bei dir Öko-Nazi!“

In Wolles Wohnzimmer macht es dreimal Plopp. Einmal „Prost!“, einmal Kopfnicken.

Wolle: “Ganz ruhig Dicky, für dich habe ich natürlich noch ein Steak im Ofen, aber nur 45 Gramm. Du wirst dich früher oder später eh daran gewöhnen müssen. Es gibt bald nicht mehr so viele Tiere auf der Welt und die Massentierhaltung ist nun wirklich keine langfristige Lösung. Also gehen wir mit gutem Beispiel voran. Jeden Tag die Welt ein Stückchen besser machen. Mhhh, was meinst du, Dicky?“

Druffi: „Nenn mich nicht Dicky. Wenn hier einer dick ist, dann bist du das. Und jetzt machst du einen auf Grünfresser. Das ist der Witz des Jahrhunderts. Guck dir mal deine Plauze an, iss doch einfach mal die Hälfte. Oder mach Sport. Ich habe gelesen, Menschen mit Plauze haben einen deutlich höheren CO²-Ausstoss. Und was in deinen Schokowaffeln drin ist, die du dir eimerweise reinfährst, will ich gar nicht wissen.“ 

Wolle: „Dicky, du sollst nicht alles glauben, was irgendwo steht. Du sollst glauben, was ich dir sage. Meine Schokowaffeln sind garantiert Bio. Außerdem sage ich genau deswegen, die Welt jeden Tag EIN STÜCKCHEN besser machen. Das verstehen viele nicht, du kannst die Welt nicht in einem retten. Meide die Extreme, Dicky.“

Druffi: „Das sagt der Richtige. Ich meide vor allem Extremisten wie dich! 45 Gramm Steak. Dass der Metzger dir das verkauft. Diese verdammte Bio-Leier. Bio hier, Bio da. Ich kann es nicht mehr hören. Für mich bist und bleibst du ein Bio-Nazi. Was heißt denn Bio? Wenn mein Dobermann die Katze vom Nachbarn frisst, und diese Katze vorher im Labor gezüchtete und ausgesetzte Wildmäuse gefressen hat, und mein Dobermann dann einen schön flüssigen Haufen in deinen Bio-Kräutergarten legt. Ist dein Kräutergarten dann immer noch Bio?“

Wolle: „Also Wildmäuse sind prinzipiell schon mal gut. Aber im Labor gezüchtet, naja.“  

Druffi: „Haha, der Öko-Nazi in der Extremistenfalle. Im Labor gezüchtete Wildmäuse, so ein Bullshit. Die kann man auch nur dir verkaufen. Im Ergebnis das gleiche: Dünnpfiff bei meinem Dobermann.“

Wolle: „Naja Druffi, du hast dich ja schon in der Schule nicht als die hellste Kerze auf dem Kuchen präsentiert. Bei dir habe ich die Hoffnung längst aufgegeben.“

Druffi: „Ich bei dir auch. Du willst die hellste Kerze sein, bist es aber nicht. Bei mir war immer klar, ich habe die längste.“

Wolle lacht lauthals los. Eine seiner leichtesten Übungen, wenn eine Situation ihm unangenehm wird. Druffi, der breitbeinig am Esstisch sitzend einen Schluck aus seiner Bierflasche nimmt, fühlt sich in seiner Männlichkeit bestätigt und schüttelt grinsend den Kopf.  

Wolle: „Mein kleiner Meathead Macho!“

Druffi schaut aus dem Fenster und denkt sich, mein kleiner was? Mhh, nein! Hier stimmt was nicht. 

--- Sich in die psychische Szenerie grabender Einschub --- 

Diese kleineren, oberflächlich-verbal stattfindenden Dispute lösen die beiden meist lachend auf. Wer dem Ursprung des Lachens folgt, der findet ihn in den Tiefenebenen der beiden Persönlichkeiten. Auf diesen Tiefenebenen halten sich beide eher selten auf. Und das, obwohl alle spüren, dass vor allem Wolle dringend häufiger tief fliegen müsste, weil es dort unten, ganz tief unten, wenn es dunkel wird, etwas aufzuräumen gilt. Zumindest Aufmerksame merken es ihm an, das weiß auch der deswegen an der Oberfläche verknotete Wolle selbst. 

Statt in der Tiefe aufzuräumen und sich an der Oberfläche zu entknoten, konzentriert sich Wolle lieber darauf, in den Augen anderer so dazustehen, dass sie ihn für einen perfekt-peniblen, alle derzeit anerkannten Standards erfüllenden, mit allem kompatiblen Teil der Gemeinschaft halten. Er poliert seine nach außen tretende Oberfläche auf Hochglanz. Er will aber nicht nur nicht anecken. Im Gegenteil, er will für sein Nicht-Anecken auch noch Aufmerksamkeit und Anerkennung. Das ist sein Ziel, um das er alles möglichst zur Zufriedenheit aller organisiert. Und damit, für alle spürbar, seinen unaufgeräumten Keller kompensiert. Er identifiziert sich mit sich als Spiegelbild, als durch die Augen der Gemeinschaft aufs Minimum reduzierte Projektionsfläche. Das Spiegelbild ist ein Katalog an Verhaltensweisen, welche die absolute Mehrheit der Gemeinschaft als mit sich kompatibel ansieht. Für ihn ist er jenes Spiegelbild. Er denkt, das ist Wolle, das bin ich. Spiegelbild-Wolle. 

Wandelt sich nun die sich ständig wandelnde Welt, wandelt sich auch Wolle. Doch wie wandelt sich Wolle? Indem er in den Augen anderer ein perfekt-penibler, alle derzeitig anerkannten Standards erfüllender, mit allem kompatibler Teil der Gemeinschaft bleibt. Was er hierfür benötigt, sind die Augen anderer. Ihre Aufmerksamkeit. Ihre Anerkennung. Sie richten über ihn und seine Verhaltensweisen. Sie validieren ihn. Sie identifizieren ihn. Sie geben ihm seine Identität. Seinen Platz auf dieser Welt. Sie, die Augen anderer, die Augen der Gemeinschaft, erschaffen und schleifen ihn. Wie sie ihn haben wollen. Wie sie ihn benötigen. Er befragt ihre Augen zu ihren Wünschen. Ihre Aufmerksamkeit gibt ihm deutliche Antworten. Wenn du dich schon verweigerst, uns deine eigenen Wachstumstreiber bereitzustellen, dann stehe nicht auch noch im Weg, sondern ecke so wenig wie möglich an. So und nicht anders akzeptieren wir dich. Durch die Augen der Gemeinschaft aufs Minimum reduziert. 

So entfaltet der Spiegelbild-Mechanismus seine Wirkung. Wolle giert nach ihrer Aufmerksamkeit. Er ist abhängig von ihrer validierenden Körpersprache und damit fremdbestimmt. Er lässt sich fernsteuern. Das immer bereite Opfer für jede Art von Manipulation. Wer es schafft, einen narrativen Trend in der Gemeinschaft zu setzen, Wolle wird folgen. Er identifiziert sich mit dem Spiegelbild-Minimum.  Egal, wo der narrative Trend ihn oder die Gemeinschaft hinführt. Wolle wird ihn nicht hinterfragen. Hinterfragen? Das hieße: Inkompatibilität, weniger Aufmerksamkeit und damit weniger validierende Körpersprache, im Angesicht der Antipathie in den Augen anderer. Nein, niemals. Wolle ist Wolle, ein perfekt-penibler, alle derzeit anerkannten Standards erfüllender, mit allem kompatibler Teil der Gemeinschaft. Nein. Wolle wird nicht hinterfragen. Schon gar nicht die Grundausrichtung, in welche sich die Gemeinschaft bewegt. Denn da unten, ganz tief unten, da wo es dunkel wird, da hält er sich eher selten auf. Und das hat einen Grund. Er hat dort nicht aufgeräumt. Und würde daher mit seinen vermeintlich perfekt-peniblen Ansprüchen, mit denen er sich als Spiegelbild-Wolle jede vermeintliche Angriffsfläche über die Augen anderer konsequent aberzogen hat, dort unten scheitern. Dieses Scheitern in den Tiefenebenen an den durch die Gemeinschaft an der Oberfläche gesetzten perfekt-peniblen Ansprüchen ist für Wolle unausweichlich, wenn er dort unten aufräumen wollen würde. Es ist sogar unausweichlich, wenn er nur die Tiefenebenen bewusst beleuchtet, sich mit ihnen auseinandersetzt und sie damit betritt. Es ist sogar unausweichlich, wenn er nur die Existenz der Tiefenebenen akzeptiert. Deswegen muss er sie leugnen, verdrängen, lachend überspielen.

Einem hinterfragenden oder scheiternden Spiegelbild-Wolle entzieht die Gemeinschaft Validierung. Warum? Weil er vermeintlich gegen sie arbeitet. Aber wie kann er durch Hinterfragen und Scheitern gegen die Gemeinschaft als Ganzes arbeiten? Durch das Hinterfragen stellt er den derzeit in der Gemeinschaft gefundenen Mechanismus der Interessenkonfliktlösung „in Frage“. Er gibt sich nicht zufrieden, er will weiter, er will wachsen, er will den Versuch starten, andere, „bessere“ Lösungen zu finden. Nur der Hauch des Willens zum Hinterfragen wird über die Augen anderer sofort durch die Gemeinschaft erfasst. Spiegelbild-Wolle will aus seinem Spiegelbild ausbrechen, er will den Katalog der Verhaltensweisen erweitern, er lässt sich nicht mehr aufs Minimum reduzieren. Für die Gemeinschaft heißt das, der gefundene Mechanismus der Interessenkonfliktlösung wird sich verändern. Definitiv. Sie reagiert mit Abwertung durch Entzug von Aufmerksamkeit und Anerkennung. Entzug von Validierung. Denn in einem Interesse sind sich alle in der Gemeinschaft vollkommen einig, egal, was Wolle da gerade mit seinen Fragen veranstaltet, wir alle werden auch in Zukunft mindestens die Interessen durchsetzen, die wir jetzt durchsetzen. Und Wolles durchgesetzte Interessen teilen wir unter uns auf. Deswegen verliert Wolle jetzt seine Position, er verliert seine durchgesetzten Interessen, seine Aufmerksamkeit und Anerkennung, er verliert seine Validierung. Du aufmüpfiges, uns anzweifelndes Wesen wirst jetzt erstmal nach unten durchgereicht. 

Was Wolle dann beweisen kann, ist, dass er bereit ist, die Abwertung durch Entzug zu durchleiden; dass er bereit ist, mit dem Wind zu fliegen, geschehen zu lassen, was geschehen muss, dass er bereit ist, den Spiegelbild-Mechanismus zu verlassen und sich seinen Platz zuweisen zu lassen; dass er bereit ist, seine Fremdbestimmung zu beenden und sich aus sich heraus selbst zu bestimmen; dass er bereit ist, den Versuch anzutreten, für die Gemeinschaft eigene Wachstumstreiber aus sich heraus zu entwickeln und ihr diese, ohne Validierung als Gegenleistung, bereitzustellen. Dieses Bereitsein ist ein realer Ort auf der Landkarte, über die sich menschliche Organismen in der Welt orientieren. Es ist ein Zustand, der empfunden werden kann, in dem Körper, Geist und Seele sich „einig“ sind, in dem die komplette menschliche Existenz aktiviert wird, der komplette menschliche Resonanzkörper reagiert, die Totalität bäumt sich auf, nimmt Spiegelbild-Wolle in sich auf, überprüft die verknotete Struktur, mit der sich Spiegelbild-Wolle identifiziert, nimmt das Messer, schneidet groben Ballast ab, all den Ballast, der nicht nur nicht zu Wolles individueller menschlicher Existenz in der Dimension der Ewigkeit gehört, sondern auch in der Gemeinschaft kein Wachstum und nicht hinreichend Mehrwert schafft, und schmiedet eine neue Einheit durch Verschmelzung von Körper, Geist und Seele. Diese neue Einheit ist nicht Spiegelbild-Wolle, sondern Wolfgang Weltretten. 

Er erhält nun die Chance, sich ausgehend von dieser Ursprungserfahrung zu entknoten, in dem er seine Tiefenebenen aufräumt und dann voller Überzeugung, mit dem Wissen über seinen aufgeräumtem Keller und den vollen Katalog seiner Handlungsoptionen in die Augen anderer blickt und anfängt, sie zu validieren, um ihnen zu signalisieren, wie sie sich verhalten sollen, um mit ihm langfristig interagieren zu dürfen. Wer diese Ursprungserfahrung machen durfte, der entwickelt zwingend eine Einstellung zum Leben und der Welt, in der er sich unterordnet unter diese Kraft, die ihm eine zweite Chance gegeben hat, um seine menschliche Existenz in der Dimension der Ewigkeit selbstbestimmt zu entfalten, die ihn noch einmal widerauferstehend verschmolzen hat und zur Totalität verbindend abgrenzte. Die das Unmögliche möglich macht. Wer diese Kraft gespürt hat, der weiß, dass er den Kontakt zu ihr nicht noch einmal verlieren möchte; dass es zu seiner Existenz gehört, die Impulse dieser Kraft in sich wahrzunehmen, mit dienender Gesinnung, und die rohen Impulse aus Gegensatzpaaren, die für einen Menschen in ihren multidimensionalen Spannungen nicht immer einfach zu tragen sind, genau diese rohen Impulse in all ihrer Lebendigkeit in sich auszuhalten, darin aufgehend zu fließen, die eigene abgrenzbare Existenz in ihnen zu spiegeln, und mit dem Instrument des sich ständig erweiternden, dennoch limitiert bleibenden suchenden menschlichen Bewusstseins daraus eigene Verhaltensanforderungen in Abwägung mit den Gegebenheiten der Totalität abzuleiten. Der Mensch als Sinnesorgan dieser Kraft. Der Mensch als Auge des Universums. Jeder soll diese Kraft nennen, wie er will.

Jeder soll sie auch leugnen können. Wer bin ich, dich zu bewerten. Welche Kraft auch immer in dieser Welt wirkt, wer auch immer welche schützenden Hände über uns legt, sie solle Wolle, wenn er denn den Prozess des Hinterfragens beginnt, die Ursprungserfahrung ermöglichen und ihm seinen Platz zu weisen.    

Häufig macht Spiegelbild-Wolle aber das Gegenteil von Hinterfragen und Aufräumen in der Tiefe. Er versucht mit allen Mitteln, sein Spiegelbild, mit dem er sich identifiziert, von der Erkundung der Tiefe abzuhalten. Denn da unten kennt es sich nicht aus. Und wahrscheinlich spürt er instinktiv, dass Spiegelbild-Wolle im Prozess zu großen Teilen sterben wird. Spiegelbild-Wolle ist nur ein Teil von Wolfgang Weltretten. Das sich mit sich identifizierende Spiegelbild-Minimum ist eine Illusion, ein inflationiertes Ego, ohne sich nachhaltig harmonisch selbstvalidierende Verbindung zur Totalität. Dadurch kann es nicht fließend wachsen anhand natürlicher Wellenbewegungen, weil die Impulse der Urkraft über die Wellenbewegungen nicht wahrgenommen werden. Die Existenz ist verknotet.  

Die Verknotung äußert sich bei Spiegelbild-Wolle dadurch, dass er seine Oberfläche perfekt-penibel vermeintlich (aus seiner Sicht) auf Hochglanz poliert. Der Hochglanz muss sich in den Augen anderer spiegeln. Zugleich unterdrückt er seine Tiefenperson. Sorry, dirty bitch, you are dismissed. Die Tiefenperson aber macht Wolle nun in den oberflächlich-verbal stattfindenden Disputen mit Druffi einen Strich durch die Rechnung, er verliert den Konflikt. Ohne wirklich angetreten zu sein. Er drückt sich vor jeder Konfrontation auf der Tiefenebene. Hier kennt er sich nicht aus. Er weiß, dort lebt die dirty bitch und mit der habe ich keinen Friedensvertrag geschlossen. Er hat Angst, Existenzangst. Zu Recht. Wenn Wolle mit seinem Küchenlatein im Umgang mit Druffi am Ende ist und sein Organismus merkt, dass Druffi mit aus den Tiefenebenen aufsteigenden Kräfte agiert, da er allem Anschein nach einen Friedensvertrag mit seiner dirty bitch geschlossen hat, sie jedenfalls leben lässt, lacht Wolle los und brabbelt, während er schon lacht, einen nicht wirklich ernst gemeinten, ihm gerade in den Sinn kommenden, aber nicht wirklich Sinn ergebenden Ausspruch. Warum ergibt dieser Ausspruch keinen Sinn? Weil Wolles Tiefenperson eine Antwort geben will, die nicht im zulässigen Antwortkatalog von Spiegelbild-Wolle enthalten ist. Der Antwortkatalog ist aufs Minimum reduziert und genau dadurch wird Spiegelbild-Wolle aufs Minimum reduziert. Denn er löst seine täglichen Interessenkonflikte mit begrenztem Antwortkatalog, mit limitiertem Waffenarsenal, er hat das Sturmgewehr in der Hand, aber alle wissen, wenn er abdrückt, kommt nur heiße Luft. Keine Munition. Es steht in seinen Augen. Es fließt durch seinen Körper. Seine gesamte Erscheinung spricht Bände. 

Die in der Gemeinschaft oberflächlich zu Tage tretende Person, die Spiegelbild-Wolle annimmt zu sein, wirkt verknotet, wenig authentisch. Sie ist ständig verunsichert und fühlt sich tatsächlich sowohl für Wolle als auch für die Gemeinschaften, denen Wolle angehört, als emotional unästhetisch an. 

Doch was ist das Minimum genau? Das Minimum, auf das Spiegelbild-Wolle sich selbst reduziert, ist die Gesamtheit der in der Gemeinschaft tolerierten und zulässigen Verhaltensweisen. Seit der Kindheit hat Wolle einen Antwortkatalog zur Lösung von Interessenkonflikten entwickelt, sozusagen sein Waffenarsenal. Durch den beschriebenen Spiegelbild-Wirkmechanismus und die Fokussierung seiner Aufmerksamkeit darauf, als perfekt-penibler, alle derzeit anerkannten Standards erfüllender, mit allem kompatibler Teil der Gemeinschaft wahrgenommen zu werden, hat sich mit der Zeit ein Katalog an Verhaltensweisen entwickelt, die im Rahmen einer strategischen Zielerreichung positive Energie durch anerkennende Aufmerksamkeit der anderen weitgehend risikolos garantieren. Dieser Katalog an Verhaltensweisen ist Spiegelbild-Wolle. 

Wenn er fragt, wer bin ich, müssten ihm ehrliche Gesprächspartner antworten: Du bist ein Katalog an Verhaltensweisen. Mehr nicht. Meist spulst du sie Tag für Tag ritualisiert ab. Der Katalog an Verhaltensweisen hat sich zu einer in sich halbwegs kohärenten Einheit verschmolzen. Diese Einheit ist Spiegelbild-Wolle in Form eines Containers, der bestimmte Verhaltensweisen zeigt. Ein sehr limitierter Container im größeren Rahmen eines sehr komplexen menschlichen Resonanzkörpers, den Wolle aber nicht versteht und nicht auslebt. Das bist du. Mehr nicht. Auf diesen Container kann sich die Gemeinschaft, mit einer Ausnahme, weitgehend verlassen und diese Verlässlichkeit ist für die Gemeinschaft wichtig, denn dadurch kann sich innerhalb der Gemeinschaft Vertrauen bilden. Vertrauen ist das, was alles zusammen hält und als soziales Bindemittel Grundlage des Zustandes der vertrauten Sicherheit, der für ein geordnetes Wachstum in Gemeinschaften unerlässlich ist. Die Gemeinschaften können auf diese Weise, mit einer Ausnahme, mit einem bestimmten Verhalten von Spiegelbild-Wolle rechnen. Als Ganzes betrachtet, streben die Gemeinschaften grundsätzlich danach, ständig mehr Vertrauen und damit sozialen Mehrwert zu erzeugen. Deswegen tendieren Gemeinschaften, hier als Ganzes betrachtet, grundsätzlich dazu, ihre Mitglieder als Spiegelbild-Wolle zu erziehen. Er ist die Standardgröße von der Stange. Er macht der Gemeinschaft im Ergebnis am wenigsten Aufwand. Er hinterfragt nicht. Fremdbestimmt. Nützlich zur Durchsetzung gemeinschaftlicher Interessen. Alles für den Dackel, alles für den Club. Das wars. Ende. 

Zur Wahrheit von Spiegelbild-Wolle gehört aber auch: Kaum Ästhetik. Ständiges Manipulationsopfer.

Wenn Spiegelbild-Wolle sich fragen würde, ob es auch anders geht. Wenn er wissen wollen würde, was die menschliche Existenz zu bieten hat. Wenn er den vollen Resonanzkörper erschließen und seine menschliche Existenz in der Dimension der Ewigkeit entfalten möchte. Wenn er wissen will, wie sich ein emotional ästhetischer Zustand anfühlt. Dann müsste er zunächst einmal leiden können. Lange. Im Zweifel sehr lange. Schweigen und akzeptieren, dass er auf dem Weg dorthin sterben kann. Jedenfalls das Bild, mit dem er sich derzeit identifiziert. Sein Spiegelbild, jedenfalls große Teile davon, werden auf diesem Weg sterben. Warum? Weil der bislang limitierte Katalog an Verhaltensweisen erweitert werden muss. Dieser Erweiterungsprozess zerstört die Einheit, zu welcher der alte Katalog an Verhaltensweisen verschmolzen war. Es bedarf einer Abgrenzung von dieser Einheit und einer Erweiterung des Blickwinkels. Dieser Prozess des Infragestellens und Verlassens der alten Einheit (limitierter Katalog von Verhaltensweisen) wird als Verwundung erfahren, im Zweifel als psychischer (Nah)Tod. Aber keine Angst, Wiederauferstehung ist möglich ;-)

Warum die Verwundungserfahrung? Weil die Einheit der limitierten Verhaltensweisen aufgebrochen werden muss, der Staudamm ist zu öffnen, wenn der natürliche Wasserfluss das Tal begrünen soll. Der Container ist zu eng. Das Baby muss sich von der großen Mutter abgrenzen. Der Spiegelbild-Wirkmechanismus muss verlassen werden. Das Aufbrechen des Containers und Verlassen des Mechanismus wird dabei als Verwundung erfahren. Emotional vergleichbar mit Haltlosigkeit. Der Fall in den endlosen Abgrund. Verloren sein. Im Prozess. Schwimmstunde im Ozean der Werte. Gleich ohne Flügel, Seepferdchen. Die größte und schönste Chance überhaupt. Denn da unten, ganz tief unten, wenn es dunkel wird, kannst du Identität sehen, schmecken, anfassen - du kannst deine Grundstruktur erkennen und neu bauen. Das Universum hat dich auserwählt und gibt dir die Chance, eine eigene Infrastruktur maß zu schneidern. Dieser Container würde ein deutlich höheres Bewusstseinsniveau und ein deutlich größeres sowie fein justiertes Spektrum an Verhaltensweisen enthalten.

Wenn er es nicht schafft, sich einen neuen Container zu bauen, dann kann er im Ozean der Werte aufgehen, in dem er denkt, er, Wolfgang, wäre der Ozean der Werte selbst, er wäre die Totalität. In diesem Zustand sind aus Sicht von Wolfgang sein bewusstes Ego und die Totalität eins. Er denkt, ich agiere als Gott, ich kann Werte schaffen und Existenz über Identität schmieden, ich bin Gott. Er vernachlässigt den Umstand, dass Gott in ihm ist, aber er nicht Gott ist. Die Kraft, die Gott für viele erfassbar macht, ist groß. Gott ist groß. Größer als er. Nicht alles in ihm ist Gott. Er grenzt sich nicht fließend über einen flexibel-feinjustierten Container an Verhaltensweisen ab, sondern agiert als wäre er die Totalität selbst, als wäre er die Kraft selbst und missbraucht damit den Wachstumsimpuls, seinen eigenen, seine individuelle Existenz in der Dimension der Ewigkeit rechtfertigenden Wachstumsimpuls, den ihm die Kraft geschenkt hat. Gott ist in ihm. Er schenkt jedem Menschen Wachstumsimpulse. Der Mensch soll diese in sich erkennen und feinjustieren, seine eigene Infrastruktur um diesen Wachstumsimpuls herum maßschneidern, um den Impuls möglichst optimal zu entfalten und über diesen Prozess möglichst viel Mehrwert in der Gemeinschaft zu generieren. Agiert er, als wäre er Gott, erkennt die Gemeinschaft das sofort als nicht tolerable, weil energetisch ineffiziente Struktur, da Wolfgang in diesem Zustand keinerlei Kompromisse schließen kann und damit keinerlei Feinjustierung der eigenen Infrastruktur möglich ist. Alle in ihm aufsteigenden Interessen dienen für ihn dem Wahren, Schönen, Guten, und sind deswegen zwingend durchzusetzen. Das ist natürlich für die Gemeinschaft in der Außenwelt nicht akzeptabel. Denn alle mit Wolfgang in diesem Zustand in Kontakt tretenden Mitglieder verlieren alle Interessenkonflikte und können damit ihre Wachstumsimpulse nicht feinjustierend entfalten. Für die Gemeinschaft insgesamt ein ineffizienter Zustand. Über kurz oder lang wird Wolfgang mit seinem Agieren die Gemeinschaft insgesamt gegen sich aufbringen, da die Kraft in den Individuen immer stärker auf die Entfaltung ihrer Wachstumsimpulse drängt und in diesem Prozess auch die erforderlichen Instrumente bereitstellt, um Wolfgang seine Grenzen aufzuzeigen.

Zwischen den beiden ungesunden Stadien (inflationiertes bewusstes Ego und inflationiertes Selbst) gibt es hingegen einen gangbaren gesunden Mittelweg nach der Verwundungserfahrung. Dieser Weg bietet die Chance, eine eigene Identität bewusst zu schmieden, die nun einen harmonischen Austausch zwischen dem Ego als kleinerem Zentrum der menschlichen Persönlichkeit und dem Selbst als größerem Zentrum der menschlichen Persönlichkeit ermöglicht. In diesem Zustand empfände sich Wolfgang als wäre er wiedergeboren, als hätte er sich selbst aus dem Abgrund gezogen, in den er gefallen war, als hätte er seinen eigenen Mythos mit seinem eigenen Blut selbst geschrieben. Als Folge dieser Ursprungserfahrung, die nicht weniger ist als eine (erste) bewusste Begegnung mit der eigenen Grundstruktur, die das Ego auf seinen Platz verweist, kann der neu gebaute Ego-Container den tiefen Einblick in das Wesen der Grundstruktur konservierend untersuchen und daraus ein erstes trittfestes Anfangsstück bewusst halten. Ein erstes stabiles Fundament. Wenn Wolfgang nun diese Zusammenhänge in einer Formensprache, die er für sich finden muss, beschreibt, dann sind viele Individuen von diesen Beschreibungen fasziniert, obwohl ihr bewusstes Ego diese Beschreibungen nicht nachvollziehen kann. 

Viele Individuen verstehen diese Faszination nicht. Sie leben sie trotzdem aus. Dieses Phänomen ist nun entschlüsselt. Dabei kommuniziert das unbewusste Selbst von Wolfgang über die Beschreibungen in einer bestimmten Formensprache von Technik, Wissenschaft jeder Art, sportlicher Verhaltensabläufe, Musik, Malerei, Poesie etc. mit dem unbewussten Selbst anderer, dessen Existenz ihrem bewussten Ego häufig nicht bewusst ist. Das ist der typische Prozess, den ein Künstler durchläuft, der erst eine tiefgreifende Krise durchlebt (Ego-Verwundung durch Ursprungserfahrung), dort Einsichten gewinnt, diese verarbeiten, in den neuen Ego-Container integrieren und ausdrücken muss, und die Erzeugnisse dann jene magisch-anziehende Wirkung auf andere haben. Hier kommunizieren uns bislang weitgehend unbekannte Wesen miteinander. Es sind unsere uns (noch) nicht bewussten Grundstrukturen (größeren Persönlichkeiten). Unser Selbst wird angesprochen, fühlt sich verstanden, anerkannt und versetzt nun den gesamten Organismus in einen anderen physiologischen Zustand. Das wird man bald messen können. Das Betrachten von Kunstwerken verändert beispielsweise den chemischen Zustand im Gehirn von Kunstliebhabern. 

--- Ende des Einschubes ---

Willy war der Unterhaltung bislang nicht gefolgt und geisterte mit seinen Gedanken in der Gegend umher: „So, lass uns mal los jetzt. Wir wollen ins KZ und hier geht’s nur ums Essen.“

Wolle und Druffi gemeinsam: „Waass? Nein, wir essen erst zu Ende! Wer weiß, wann wir das nächste Mal was kriegen, dort ist es doch immer so voll.“

Willy: „Nein. Es war dort noch nie so voll, dass ihr nichts zu essen gekriegt habt. Wir wollen ins KZ, ins Kebap-Zentrum, wie könnte ihr da jetzt über Essen reden. Ich hol schon mal den Wagen aus der Garage.“

Der Wagen, ER, ist ein Jaguar Sovereign XJ 4.2, Baujahr 1984, ein Raubtier, entworfen vom Gründer höchst persönlich, von Sir William Lyons, vorgestellt 1968 in Paris, 6-Zylinder, Vier-Takter, 4.235 cm³ Hubraum, Wasserkühlung, 4-Gang Getriebe, in neun Sekunden von null auf hundert, das ist kein Personenkraftwagen, das ist kein Nutzfahrzeug, das ist ein Statement. Mit Ausrufezeichen.

Willy liebt das Ritual. Er leert sein Bier in einem Zug, hebt sich aus seinem alten Chesterfield-Sessel, stellt die leere Bierflasche mit immer dem gleichen zurückhaltend-markanten Ton auf den Tisch und geht Richtung Schlüsselbrett. Der Jaguar-Schlüssel hängt ganz oben in der Schlüssel-Pyramide, wie die Freiheit, wie der Sovereign. Der Anhänger klimpert nicht, er macht Musik. Er schwingt ein in den Sound von Willys Erscheinung, er wird Teil seiner Hand, sein elfter Finger. Erweiterung seiner Sinne. Er zieht die Tür hinter sich zu und atmet tief ein. Freiraum. Auf dem Weg zur Garage greift er in die Innentasche seiner Lederjacke, zieht ein Soft-Pack heraus, klopft es gegen seine Hand und greift mit den Lippen nach der vorstehenden Zigarette. Das verwitterte Holztor der alten Garage klemmt wie immer. Willy hebt es mit geübtem Griff an und stemmt beide Flügel weit auf. Da ist er. Mein Sonnenschein. Vorsichtig streift Willy den dunkelgrünen Vlies-Überzug ab und strahlt ihn an, den glänzend polierten, reflektierenden Sonnenschein in Racing Green. Hey Baby, hab ich dir schon mal gesagt, wie schön du bist. Wie sehr ich deine Rundungen mag. Wie sehr du mich anziehst. Wie sehr du mir fehlst, wenn du nicht bei mir bist. Klick. Die Fahrertür öffnet sich. Steig ein, großer Held. Willy folgt seinen Instinkten. Er riecht die Bestimmung. Nicht jeder darf in dir Held sein, Baby. Nicht jeder darf dich führen. Ich habe dich ausgesucht. Du gabst mir die Pole-Position. Musik, wir brauchen Musik, Baby. Zündung. Und der Shuffle-Modus der Welt wählt Willy den ersten Song. Und während sie beide mit den ersten Akkorden tief verschmelzen, zündet ihm Baby seine Zigarette an.


„I am the passenger and I ride and I ride
I ride through the city's backsides
I see the stars come out of the sky
Yeah the bright and hollow sky
You know it looks so good tonight”

 

Eigentlich wollte ich dir die Kraft von zwölf Zylindern spendieren, Baby, aber sechs reichen uns, oder? Du gehst mir schnell genug von null auf hundert. Nicht, dass dir noch die Pferde durchgehen. Denke niemals, das hier wäre Automatik. Du musst den Steuerknüppel immer in der Hand behalten. Wo hast du das heute noch?