Offenes Tagebuch

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Edwin Old Economy: Bitte Rücksprache!

 

I.

„Guten Tag, Herr old Economy. Wie schön, Sie sind schon da.“ Fräulein Mini-Rock lächelte maskiert. „Ihre Unterschriftenmappe liegt auf dem Schreibtisch. Hatten Sie einen guten Flug?“

„Kaffee und Wasser. Danke! Und sagen Sie dem Team, alle zur Rücksprache. Sofort. Danke!“

„Mhh, ja, ich meine, das Team ist gerade gemeinsam zu Tisch.“

Er holte tief Luft, rollte mit den Augen, schnaufte laut und sagte mit gequältem Lächeln: „Danke!“

II.

Der Zeitplan war wie immer eng: Landung 14.00 Uhr. Ankunft im Turm ca. 14.30 Uhr. Mitunter ist er früher da. Er? Ja. Er! Es bedarf keines Namens. Es gibt nur ein Gesprächsthema. Ihn. Für das Team, deren Partner, deren Freunde, für die Sekretärinnen, deren Partner, deren Freunde, für Konkurrenten, deren Partner, deren Freunde, für die Fahrer des unternehmenseigenen Limousinenservices, deren Partner und deren Freunde. Und für noch viele mehr.

Nachrichtenverlauf um 11.20 Uhr im Team-Chat:

„12.00 Uhr Lunch? Er landet 14.00 Uhr. Mittagsmenü bei Matteo?“

„Bin dabei“

„Nice! Ich auch.“

„Dito!“

 „Meinst du wirklich? Nicht, dass er früher kommt.“

 „Top, hab reserviert. Endlich mal Zeit zum Mittagessen. YEAH!“

III.

Was das Team zu dieser Zeit noch nicht wusste, er hatte mal wieder den früheren Flieger genommen. Die Maschine war bereits gegen 9.15 Uhr in London gestartet. Um 12.15 Uhr fuhr die Limousine mit Vollgas auf der stadteinwärts führenden Schnellstraße vorbei am Hammering Man und bog ohne Rücksicht auf Verluste in die erste Seitenstraße, in die zweite Seitenstraße, ab in die Tiefgarage und hielt mit quietschenden Reifen vor dem Aufzug, der ihn in die oberste Etage bringen sollte. Der Chauffeur sprang aus der Fahrertür, lief hastig vorne um die Limousine, drückte mit der linken Hand die Klingel für den Aufzug und öffnete zeitgleich mit der rechten Hand die hintere Tür des Wagens.

„Sir, neuer Rekord. 17 Minuten und 45 Sekunden.“

„Danke! Deutlich zu langsam. Am Zebrastreifen mehr Gas geben. Warum ist der Aufzug noch nicht da? Rufen sie bitte noch während der Fahrt oben an, der Aufzug muss offen stehen, wenn ich ankomme.“

„Verstanden. Ich wünsche Ihnen noch einen erfolgreichen Tag.“

„Den hatte ich schon. Danke! Jedenfalls nach ihren Maßstäben. Ich bin seit 4 Uhr auf den Beinen.“

Um 12.18 Uhr öffneten sich die Panzertüren des Aufzuges in seinem Büro. Der einzige Aufzug in der Stadt, der nur zwei Haltepunkte kennt. Ganz unten und ganz oben. Der Aufzug ist maßgeschneidert, wie seine Anzüge. Spezialanfertigung aus Schwaben. Made in Germany. Rund, gepanzert, mit Pickelhaube, maximale Traglast 105 Kg. 70 Kg für Edwin, 35 Kg für Akten. Boden und Decke verziert durch Marmor aus Carrara, Seitenwände verspiegelt. Fahrzeit durch neue Antriebstechnik: 7 Sekunden. Bäääm!

IV.

Um 12.20 Uhr nahm er den Hörer seines Telefons und wählte die Einzelbüros des Teams an. Keiner antwortete. Er rief nochmal an. Und nochmal. Bis jeder einzelne Apparat fünf Anrufe in Abwesenheit zeigte. Dann lehnte er sich zurück in seinen ergonomischen Schaukelstuhl, schaute aus dem Fenster und raufte sich schnaufend die kurzgeschorenen grauen Haare. „12.31 Uhr ist Mittagspause! Bis maximal 13.29 Uhr“, flüsterte er zähneknirschend in den Raum und widmete sich dem überquellenden Posteingangskorb, in dem sich die Zuarbeiten des Teams stapelten. Er ist verdammt effizient im Review der Dokumente, wer weiß, wie hoch sein IQ ist. Dreißig Minuten, dann waren sämtliche Dokumente geprüft und auf den Schreibtischen des Teams verteilt. Fehler hatte er zu Genüge gefunden. Fehler? Fehler! Keine Fragen stellen! Langfristige Lösungen liefern! Es gibt nur eine Ausnahme. Wenn ein Fehler sich als fehlerhaft herausstellen sollte, was ausgeschlossen ist, hätte der, der das Dokument betreut, das kleinste Licht, die kleine Biene, den Fehler in Frage stellen müssen. Es ist ihr Dokument. Sie trägt die Verantwortung. Dafür wird sie hoch bezahlt. [Bitte jetzt keine Miene verziehen, bei dem Thema ist er reizbar.] Ist ein Dokument fehlerhaft, haftet intern das kleinste Licht. Klare Linie. Er hilft den Lichtern nur bei der Erledigung ihrer Aufgaben. Er organisiert den kleinen Bienen die Aufgaben, kontrolliert den Standard der Dokumente, für die er nach außen mit seinem Namen einsteht, und nimmt sich dafür den Kuchen. Die Krümel verteilt er. So einfach ist es. Für ihn sind die kleinen Lichter wie produktive Assets. Wie kleine Bienen. Die Frage ist, wieviel Honig sie schnell ins Nest bringen. Wer von außen auf dieses wunderbar harmonische Schauspiel als Beispiel einer erfolgreichen Infrastruktur schaut, der ist sofort überwältigt ob des Spiegelbildes einer in der Natur seit Jahrtausenden überlebenden Struktur wie dem Bienenschwarm. Der Mensch als Biene. Der Mensch als Maschine. Der Mensch als produktives Asset. Mit dem Unterschied, dass aus manchen Arbeitsbienen ein(e) König*in werden kann. Dafür benötigt sie, die Biene, nur eins. Eier.

Ob das ein gesundes Menschenbild für die Zukunft ist?

Oder ist es old Economy?

V.

Bei Matteo gab es drei Gänge: Thunfisch-Tartar, Trüffel-Tagliatelle und Tiefkühl-Tiramisu. Vorweg Prosecco, Espresso zum Abgang. Das Team speiste köstlich. Man lachte viel. Vor allem über ihn. Und die neuesten Geschichten. Hört zu: „Fräulein Mini-Rock, morgen bin ich in Paris. Haben Sie genug zu tun? Gut. Ich bin durchgängig in Meetings, aber erreichbar. Sie halten sich unentwegt zu meiner Verfügung. Falls was hoch ploppt, sind sie dran. Jetzt ist mal Schluss mit Gala lesen. Wir sind hier nicht im Reitstall.“

„Oder als er aus dem Auto anrief und der Ton so gut war, als würde das Handy im Kofferraum liegen. Hallo, Ha---all---oo, kö---öön---nne---n s—i--e mi---ch höö----örrre---enn? Bitte in Sachen M__ das ---PA vo--- ---- HUP! HUP! HUUUUP! Arschloch! a--- mi--- per mail. Danke! Tut tut tut. Rückrufe wurden generell nicht entgegen genommen. Naja, ein kleines Kreuzworträtsel, das kann ja jeder. Manche schickten dann das SPA aus der aktuellen Transaktion in Sachen M__. Hah, Fehler! Er meinte das NDA, hatte nur SPA gesagt. Wo sind sie mit ihren Gedanken? Was soll ich denn mit dem SPA? Mitdenken!“

Kurz vor 14.00 Uhr tippelte das Team mit angeheiterten Bäuchen und gefüllten Gemütern wie im Entenmarsch in die Eingangshalle des hohen Turmes, begrüßte den Concierge natürlich nicht, man gehört zu DER Firma, d.h. man hat sehr viele sehr wichtige Dinge zu tun, und bitte, wenn das Team dann mal Augenblicke der Entspannung hat, kann es nicht auch noch den Concierge grüßen. Also bitte, das sollte nun wirklich außer Frage stehen. Der Concierge las mittlerweile auch Gala, wie Fräulein Mini-Rock, all die verschenkten Blicke, dann lieber den neuesten Klatsch und Tratsch aus dem Jet-Set beschmunzeln. Da, wo ihr alle hinwollt und es doch nie schaffen werdet, dachte er sich.

Als das Team den Aufzug betrat, herrschte plötzlich betretenes Schweigen. Ding Dong. Der Aufzug war oben angekommen. Mit codierter Karte öffnete das Team die Panzertür in den goldenen Käfig und spazierte heraus aus der Freiheit. Freiwillig. Sesam öffne dich. Ein Mutiger flüsterte: „Auf in die Höhle des Löwen!“ Verhaltenes Gelächter.

VI.

Das war das Signal. Er wählte das Telefon in Einzelbüro 1 an.

Asset 1: „Ist das meins? Verdammt, ist er schon gelandet?“

Schon die Vermutung reichte, um den kollektiven Pulsschlag des Teams ansteigen zu lassen. Alle Bienen schwärmten sofort in ihre Waben. Schockstarre. Eiserne Regel: nicht bewegen!

Asset 1 liest auf dem Display des Telefonapparates seinen Namen. Nein, nicht die Mobilnummer. „Fuck! Er ist da!!“ flüsterte er. Das Team spürte es intuitiv.

Er am Telefon: „Wo waren sie?“

Asset 1: „Ämh, wir waren alle zusammen zu Tisch, wir hatten sie etwas später erwartet.“

Er: „Kommen sie bitte? Danke!“ Tut tut tut.

Asset 1 eilte mit Stift und Notizbuch in die Höhle des Löwen.

Er: „Machen Sie die Tür zu? Danke!“

Asset 1 schloss die Tür mit einer gefährlichen mulmig-angeheiterten Stimmung im Magen.

Er: „Ihre Dokumente. Absolut enttäuschend. Sie haben mich persönlich enttäuscht. Ich habe mich für sie eingesetzt, alle anderen waren dagegen. Mich hat noch nie jemand so enttäuscht. Ich habe noch nie jemanden gesehen, geschweige denn von jemandem gehört, der solch enttäuschende Dokumente abliefert. Noch nie! Ich hab mich umgehört. Die negativen Eindrücke über sie mehren sich. Es sieht nicht gut aus für sie. Was ist mit ihnen los? Sind sie krank?“

Asset 1: „Mhh, tja, ich weiß es nicht.“

Er: „Wo ist Dokument 3?“

Asset 1: „In meinem Büro.“

Er: „Warum ist es nicht hier?“

Asset 1: „Ich wusste nicht, soll ich...“

Er: „Holen Sie es bitte? Danke!“

Asset 1 hastete in sein Büro und holte Dokument 3.

VII.

Er: „Hier. Tippfehler! Wie die Amateure! Wo sind sie mit ihren Gedanken! Dann hier. FALSCH, FALSCH, FALSCH!! Hier. FALSCH. Da. FALSCH!! FALSCH FALSCH FALSCH FALSCH! Alles FALSCH! Alles, was sie machen, ist FALSCH! Was haben sie eigentlich studiert? Haben sie überhaupt studiert? Oder sind ihre Zeugnisse gefälscht? Also so langsam schließe ich das nicht mehr aus. Fünf Fehler auf hundert Seiten, wo sind sie mit ihren Gedanken. Ich meine das ernst. Ich frage mich, ob sie jemals irgendetwas studiert haben. Das lernt man im ersten Semester. Ganz ehrlich, ich weiß nicht, ob es für sie hier reicht. Ich melde mich bei ihnen. Danke!“

Asset 1: „---“

Das Team zitterte, war paralysiert. Als es vernahm, dass er da ist, dachten alle, hoffentlich nicht ich. Alle hatten es schon erlebt. Asset 1 war der Dienstjüngste. Büro neben ihm. Es war sein erstes Mal. Er wurde entjungfert. Das Team sagte sich intern, wir können nichts machen. Da muss hier jeder durch. Es musste zusehen, wie Asset 1 psychisch vergewaltigt wurde. So wie sie alle psychisch vergewaltigt worden waren.

Nach dem ersten Mal häufen sich die Zwischenfälle bei dem jeweiligen Asset. Er hat es auf dem Kieker. Er will testen, bewusst brechen, um psychische, angstbestimmte Abhängigkeit herzustellen. Er will manipulieren. Rendezvous with a narcissistic psychopath. Immer kürzere Zeitabschnitte liegen zwischen den einzelnen Vergewaltigungen. Alle gucken zu, wie das Selbstvertrauen der Biene Tag für Tag aus der Turmspitze in den Keller fährt. In sieben Wochen. Ding Dong. Irgendwann geht der Aufzug ganz unten auf und heraus kriecht ein gebrochenes Häufchen Elend, das sich psychisch in sich erbrochen hat und steigt in das neuste Konsumgut, welches das halbe Nettomonatseinkommen verschlingt. Wenn es zu sich steht. Viele Assets leugnen, verdrängen, funktionieren. Leben in angstbestimmter Abhängigkeit. Lassen sich vergewaltigen, Woche für Woche. Irgendwann sind sie emotional verstummt und schauen zu. Haben Sie eine Wahl? Der Honig der Aufmerksamkeit ist süß. Aber die Wege in die Freiheit (noch) gangbar. 

Unter Sklaven.

VIII.

Auch viele andere in DER Firma sehen zu, wehren sich nicht. Sie wissen, was dann passiert. Er sitzt am Fleischtopf. Er vergibt die Rollen in den wichtigen Filmen. Deswegen schweigen sie. Keine Rolle, keine Aufmerksamkeit. Sie sagen sich, wir halten es aus, wenn es passiert. So oft trifft es mich persönlich nicht. Wir sind High-End-Berater und erfüllen alle Standards von Diversity bis Mitarbeiterentwicklung. Gut, die Aktionen mit der psychischen Vergewaltigung, die sind nicht unbedingt nur gut für die Assets, aber im Grunde will er sie nur besser machen. Sie sind noch jung und unerfahren, noch nicht erwachsen, antiautoritär erzogen, wurden nicht von der Bundeswehr geweitet. Heute wird jeder mit Samthandschuhen angefasst und irgendwann knallt es dann eben. Erfolg kommt nicht ohne Anstrengung und Ausdehnung. Und eins ist klar, DIE Firma wird auch zukünftig Erfolg haben. Wer dabei sein will, der muss sich diesem System unterwerfen. Es gibt keine Alternative. Das Bewusstsein muss im Zweifel eben geweitet werden. Er will sie im Grunde besser machen, deswegen macht er das überhaupt. Er will es eigentlich gar nicht. Er macht es nicht zur Selbstbefriedigung. Genau, so muss man es sehen, das ist im Grunde die moderne Art der High-End-Mitarbeiterentwicklung. Andere bezahlen Geld dafür von einem strengen Guru abgehärtet zu werden. Er macht es ihnen kostenlos.

… „On how to be the newest shit in 2030“…

Sie, die Insider und Zuschauer in DER Firma, wollen nur Normalität. Alles, was sie wollen, ist dabei sein und nicht scheitern, intern nicht zurückfallen hinter ihren an ihm gemessenen Umsatzerwartungen. Dafür schweigen sie. Sie lassen sich psychisch vergewaltigen, adaptieren das Verhalten und agieren es aus. Der Honig der Aufmerksamkeit ist einfach zu süß.

Sie nehmen Aufputschdrogen. Wenn keiner guckt.

Ihren Kindern geben sie Beruhigungstabletten. Wenn keiner guckt.

Ihre Kinder nehmen Aufputschdrogen, sind traumatisiert, weil keiner guckt.

Manche träumen davon, sich aus seinem Schatten freizuschwimmen, um nicht nur die Fische zu futtern, die aus seinem Maul fallen, sondern eigene Jagdgründe in der hell-türkisen Tiefsee zu erschließen, sie träumen davon, die Maske abzunehmen und mal wieder aus tiefer Seele zu lachen, mal wieder anderen authentischen Menschen beim Bierchen an der Theke zu begegnen, tiefgreifende Aufmerksamkeit zu schenken, die Familie nicht nur von Bildern zu kennen, sondern jedes Detail an ihnen wahrzunehmen, einzuschlafen, ohne zu wissen, wann man aufwacht, mal wieder ein menschenwürdiges Leben führen.

Doch der Honig ist einfach zu süß.

IX.

Er und sein möglicher Heilungsprozess. Ob er sich bewusst ist, was er tut? Positiv auslegend: nein. Er hat eine Aufgabe übernommen, hat sich dem Gründer DER Firma per Handschlag versprochen und fühlt sich verpflichtet. Verpflichtet, die Standards aufrecht zu erhalten und damit auch der Gemeinschaft zu dienen. Nachvollziehbar. Respekt. Anerkennung. Er versucht seine Leistung zu bringen. Mit bestem Wissen und Gewissen. Dennoch muss er sein Verhalten verantworten. Er ist traumatisiert, wahrscheinlich seit der Kindheit. Die wichtigen Vertrauensbeziehungen wurden nicht gehalten. Er wurde oft enttäuscht. Deswegen versteht er zwischenmenschliche Beziehungen vor allem über Abhängigkeitsverhältnisse. Also negativ. Die gleiche Struktur (zwischenmenschliche Beziehung) kann auch positiv empfunden werden - als Vertrauensverhältnis. Nur wer vertraut, kann mit anderen Menschen dauerhaft auf Augenhöhe agieren. Er gesteht es sich weder zu, jemandem zu vertrauen, noch von jemandem abhängig zu sein. Zu oft wurde er enttäuscht. Abhängigkeit ist für ihn potentielle Enttäuschung. Er arbeitet ständig daran, seine Position zu verbessern. Er kann nicht auf Augenhöhe agieren. Niemals Schwäche zeigen. Mit diesem Bedürfnis ist er ganz sicher nicht allein. Die Frage ist, ob man an sich arbeitet oder es verdrängt.

X.

Negativ auslegend: Er manipuliert bewusst. Sein Umgang mit anderen Menschen ist inakzeptabel und auch unproduktiv im Sinne seiner eigenen Leistungsansprüche. Teil seiner Persönlichkeitsstörung ist das Fehlen von Empathie. Ihm fehlt die Fähigkeit, auf ein Verhalten einer anderen Person so zu reagieren, dass die ihn umgebende Gemeinschaft die Reaktion als angemessen bewertet. Das liegt daran, dass er menschliches Verhalten kaum lesen kann. Die Motive, Emotionen und Empfindungen anderer Menschen bleiben ihm verborgen. Er funkt kaum auf der emotionalen Ebene, ihm fehlt diese Kommunikationsebene scheinbar fast vollständig. Er versucht die Informationen, die andere Menschen über die Körpersprache anderer im Rahmen von Vertrauensbeziehungen generieren, rational über bewusste Denkprozesse aufzuholen. Das ist schwierig. Viele Menschen machen genau das intuitiv, nur un(ter)bewusst, und damit viel schneller. Sie vertrauen auf sich, ihr Un(ter)bewusstsein und andere Menschen. Haben dadurch im Bewusstsein Rechenkapazitäten für andere Prozesse frei. Er nicht. Sein Bewusstsein ist dominiert davon, oben zu stehen, ständig Aufmerksamkeit anderer Personen zu erhalten. Vielleicht hat es Einfluss auf den IQ, wenn jemand seit früher Kindheit viele bewusste Prozesse durchrechnen muss. Da er nicht vertraut, muss er sämtliche Eventualitäten potentieller Enttäuschungen durchrechnen. Das ist seine Strategie mit der Realität umzugehen. Er „vertraut“ nur darauf, was er rational sicher nachvollziehen kann. Vertrauen bedeutet aber, sein Handeln auf etwas Unsicheres aufzubauen. Er muss wissen, kann nicht vertrauen. Alle ihn unmittelbar umgebenden Personen müssen deswegen von ihm abhängig sein, im Status klar unter ihm stehen. Nicht er von ihnen. Er fühlt sich ständig bedroht und herausgefordert. Deswegen die emotionalen Überreaktionen, Angstzustände und enorme Anspannung im Umgang. Er tritt zu, wenn sein Gegenüber schon innerlich emotional geschlagen am Boden liegt. Er verkennt die Situation. Vertrauensbeziehungen sind für ihn extrem schwierig. Dieser innerliche Zustand in ihm löst langfristig einen starken Ausstoß an Stresshormonen aus und lässt ihn schneller altern. Man sieht es ihm an.

XI.

Sein Verantwortungsgefühl gegenüber der Verpflichtung ist stark. Er stellt die Verpflichtung über die psychische Integrität anderer Menschen. Das ist inakzeptabel. Der Staat hat insoweit eine Schutzpflicht. Die psychische Integrität des Einzelnen ist bislang noch nicht hinreichend strafgesetzlich verankert, sonst wäre ein Verhalten wie die psychische Vergewaltigung im Rahmen der abhängigen Sklavenarbeit in DER Firma strafrechtlich zu ahnden. Diese jungen Menschen sind ihm von der Gemeinschaft anvertraut. Er missbraucht sie. Er missbraucht sie und schadet damit der gesamtgesellschaftlichen Infrastruktur. Die jungen Menschen sind die Zukunft, er und die ältere Generation haben die Aufgabe, die Jugend als authentische Verantwortungsträger auszubilden. Diese Aufgabe nimmt er nicht wahr, er entwickelt sie nicht. Er bricht sie, hält sie klein. Damit seine Größe unerreichbar scheint. Das ist gesamtgesellschaftlich ein nicht tolerierbarer Narzissmus, ganz unabhängig von seiner Leistungsfähigkeit. Er beschädigt andere Menschen in ihrer psychischen Integrität. Das ist nicht zu tolerieren. Die gesamtgesellschaftlichen Konsequenzen sind verheerend. Ältere Semester müssen die Jugend anstiften, über sie hinaus zu wachsen. Er kann es nicht ertragen, wenn seine Kompetenz, sein Verantwortungsgefühl oder irgendein Wert, der von der ihm umgebenden Gemeinschaft symbolisch als stark eingeordnet wird, von anderen in Zweifel gezogen wird. Er muss oben stehen. Sonst reagiert er mit herablassenden Gesten. Er wertet andere Menschen ab, vor allem in sich, aber auch durch Äußerungen, vor allem jene, die ihn in seinem Status und im Hinblick auf die Aufmerksamkeit nahe kommen. Dies alles ist in seiner Körpersprache zu lesen. Was er natürlich nicht mag, sind Personen, die ihn lesen können. Überleben kann ein solch sensibler Lesender in seiner Nähe nur in der Rolle des Opportunisten, nicht in der Rolle des Idealisten.

XII.

Zwischenmenschliche Beziehungen im Sinne des Systems angstbestimmter Abhängigkeit führen die beteiligten Individuen nicht in die Rolle von authentischen Verantwortungsträgern. Sie fühlen sich für die beteiligten Individuen auch nicht gut an. Sie bleiben langfristig für alle Beteiligten emotional unästhetisch. Das lässt sich in der derzeitigen Arbeitswelt zu Genüge beobachten. Doch nicht nur für die Beteiligten, jede einzelne zwischenmenschliche Beziehung strahlt aus auf andere und auf das gesamtgesellschaftliche Geflecht aus zwischenmenschlichen Beziehungen. So kann es dazu kommen, dass der sehr leistungsfähige narzisstische Psychopath eine große Wirkung auf das Wohlbefinden einer gesamten Gemeinschaft hat, die vor allem Leistungsfähigkeit als Maßstab für ihre Kompetenz- und Verantwortungshierarchien ansieht und zugleich jede Art von Nebenwirkungen des narzisstisch-psychopathischen Verhaltens ignoriert und damit toleriert. Die Leistungsfähigkeit wird als einziger Maßstab etabliert, koste es, was es wolle. Der leistungsfähige Psychopath strahlt dann von seiner Top-Position negative Energie in die Gemeinschaft über seine Hierarchie (Geschäftseinheit, Familie, ihn umgebenden Personen, Freunde etc.), die er über das Prinzip der angstbestimmten Abhängigkeit organisiert. Je mehr dieser Hierarchien in einer Gemeinschaft existieren, desto mehr Angst herrscht in der gesamten Gemeinschaft vor.

XIII.

Nun ist für eine produktive Auseinandersetzung mit der Struktur der angstbestimmten Abhängigkeit  wichtig, die Dinge zu unterscheiden. Zum einen sind natürlich nicht alle Leistungsträger Psychopathen. Das Problem ist nicht die Seite ihn ihm, die Leistung bringt. Sie ist gesamtgesellschaftlich produktiv und positiv, sie sollte, wenn möglich, erhalten werden. Leistungsträger und deren Errungenschaften können nicht groß genug anerkannt werden. Wegen ihnen funktioniert unsere Gesellschaft so hervorragend. Wenn aber die Leistungsfähigkeit durch die Angst ausgelöst bzw. durch das System der angstbestimmten Abhängigkeit aufrecht erhalten wird, muss diskutiert werden, ob man als Gesellschaft bereit ist, diesen Preis zu zahlen. Die Angst ist letztlich eine Energiequelle, die Menschen zur Leistungsfähigkeit treibt. Sie neigt dazu, innerhalb der Gemeinschaft regelmäßig außerordentlich heftige Ausschläge („Krisen“) hervor zu rufen und die Menschen von innen krank zu machen. Angst kann als vorübergehender Ausnahmezustand im Individuum hilfreich sein. Sie weckt auf und lässt den Menschen über seine gewöhnlichen Grenzen gehen, seine Reserven anzapfen, um einer Ausnahmesituation zu entkommen. Angst als Dauerzustand ist gefährlich und tödlich. Der Körper geht anhaltend über seine Grenzen, zapft anhaltend die Reserven an, bis der Körper aufgibt. Unser derzeitiges Gesellschafts- und Wirtschaftssystem ist auf Angst als Dauerzustand aufgebaut. Von Krise zu Krise. Das ist langfristig ungesund. Deswegen sterben die Deutschen auch gewöhnlich früher als Bürger anderer Staaten. Und wir wollen diese ungesunde Struktur noch anderen Staaten aufoktroyieren. Kein Wunder, dass die sich weigern. Es ist Zeit für den antizyklischen Kämpfer. Wir sollten von anderen lernen und ein europäisches Gesellschaftssystem entwickeln, dass auf Vertrauen und Verantwortung aufbaut. Es gibt auch andere Energiequellen, die Leistungsfähigkeit hervorrufen können.

Die Angst ist deswegen eine negative Energie, weil sie eine abwehrende Kraft ist. Die Angst spricht in den Menschen: „Das Letzte was ich machen will, ist Trauma-Bewältigung. Das tut weh, das weiß ich. Deswegen gehst du lieber arbeiten, bringst Leistung, holst dir dort deine Anerkennung, mit der du leben musst. Dann müssen wir nicht dahin, wo es weh tut. Mehr ist für dich nicht drin.“ Die Angst spiegelt dem Einzelnen eine limitierte Scheinwelt vor, als gäbe es nur diese. Was sie verschweigt, ist die Welt hinter der traumatisierten Wand aus Wunden. Die Angst versieht die Wand aus Wunden aus emotionaler Perspektive innerlich mit Spiegeln. Sie suggeriert dem Einzelnen, dass es nicht mehr in ihm zu erforschen gibt. Das ist falsch. Hinter der verspiegelten Wand aus Wunden findet sich eine bislang nicht integrierte Realität. Eine weitere Welt der Wirklichkeit. Sie ist bei jedem Individuum verschieden, wie die Traumata aus der Kindheit auch. Dort finden sich meist gute und weniger gute Aspekte, so wie in der durch die Angst limitierten „kleineren“ Welt der Wirklichkeit auch.

XIV.

Meines Erachtens fordert uns das Humboldtsche Bildungsideal auf, den kompletten Resonanzkörper des menschlichen Individuums, die gesamte Welt der Wirklichkeit in uns zu erschließen, an den Traumata zu arbeiten, sie in uns zu konfrontieren, durch die Angst bislang unentdeckte Welten der Wirklichkeit aufzudecken, diese in unser Weltbild zu integrieren und dann die Gemeinschaften und Hierarchien, in denen wir wirken, als authentische Verantwortungsträger zu bereichern. Dies kann der Einzelne nur, wenn er seine bösen und dunklen Schattenseiten in sein Weltbild integriert hat.