Offenes Tagebuch

creative writing

 

Lilly: Waiting for Willy

 

Prolog

Wilhelm: „Nietzsche brüllt weiterhin aufbrausend in die Brandung unserer Gedanken, mit Blut sollt ihr schreiben. Friedrich Wilhelm, das Fass meiner Feder, es ist gut gefüllt. Wo immer du gerade bist, ich war für dich in den Bergen, habe deinen Zerberus Zarathustra, hochmütig von Einsamkeit, gesucht in den Gipfeln, bin mit ihm hinabgestiegen in Täler und Städte, bin so oft über Seile getanzt, habe probiert, was es zu probieren gab, habe durchdacht, was es zu durchdenken gab, bin gefallen in den Abgrund, habe einen Weg heraus gefunden. Ich bin wieder und wieder aufgestanden. Bis ich fühlte, wo Blut ist, ist Kampf. Und wo Kampf ist, ist Leben. Und wo Leben ist, ist Wachstum. Und wo Wachstum ist, ist Hoffnung auf emotional ästhetisches Wachstum. Deswegen gehe ich für dich wieder und wieder in die Berge, suche als Camus´ glücklicher Sisyphos wieder und wieder in den Gipfeln, steige hinab in die Täler, fließe durch fremde Städte und tanze mein Leben auf den Seilen, die du spanntest. Und halte dadurch die Vertikalspannung für deinen Geist in meiner Zeit. Sieh: Lilly is waiting for Willy! Wo ist er? Sieh: Kein Weg führt vorbei am kommenden Klassiker, Wilhelm der Weise. Wir wollen kein Blutvergießen, keine gewetzten Worte im Schweigemantel. Schmiede, schmiedet Anker und Brücken anstatt Schwerter und Krücken. Träumer, erträumt Visionen, die zu Verschmelzendes verschmelzen und Abzugrenzendes abgrenzen. Der nihilistische Drachen speiht Kälte in die Köpfe. Friedrich Wilhelm, wie erwartet, weiß er nicht, was er tut, er weiß noch nicht mal, was er will, er weiß nur, was er gerade nicht will. Und das wechselt ständig. Wir leben heute in der Steinzeit der menschlichen Psyche. Kreative kämpfen mit Keulen. Wilhelm steht jedem von euch im Kampfe träumend zur Seite und wer keinen Widersacher hat, der soll ihn in Wilhelm Wallace finden. Wilhelms Waffen sind Worte. Er brüllt: FREIHEIT!“

Bestandsaufnahme im musikalischen Geschlechterkampf einer postmodernen Gesellschaft

Yung Hurn, Eisblock (Textauszug Song 2018): „In mei'm Kopf nur zwei-zwei, ja, Ich mach' Schluss und sie weint, weint, no no, In mei'm Herz drin Eis, Eis, ja, Nasenlöcher beide weiß, weiß, ja, sie ist die ganze Zeit auf Instagram, ja, mein Baby schaut sich meine Bilder an, jaja, schaut sich ganze Zeit die Bilder an, ja, mein Baby sagt, sie ist geil auf mich, ja, und sie wollen Fotos, wo ich oben bin, ja, ey, doch sie wissen nicht, wer ich bin, ja, drinnen innen in mein Herz, okay, jaja, ja, sie kennen nicht den Schmerz, okay, ja, sie sagt zu mir, sie will Weed haben, ja, fick' sie am Klo, Fashionweek Party, ja, und Leute klopfen an der Klo-Tür, ja, Klopf-Klopf, hallo, wer ist da?“

GZUZ, Drück Drück (Textauszüge Song 2018): (1) „Keine Gnade, keine Rücksicht, wenn eine Grade dein Gesicht trifft (hah), wir machen Para mit mei'm Business, alles andre intressiert nicht (na)“; (2) „ich hab' es so gewollt, man hat immer 'ne Wahl, Drogen verpackt in mei'm Kinderzimmer, Kopf durch die Wand, so wie Zidane, Und in dein'n Hals wird 'ne Klinge gerammt“; (3) „CL 500 Facelift, Hab' nur das gute Haze mit, die Schlampen rufen an, doch keine Zeit, ich drück' sie weg“.

Princess Nokia, Tomboy (Textauszug Song 2017): Aus der andere Ecke kommen im deutschsprachigen Raum noch wenig präsente Töne. Die queere New Yorkerin Princess Nokia legt vor. „With my little titties and my phat belly/I could take your man if you finna let me/it’s a guarantee that he won’t forget me/my body little, my soul is heavy […] he so in love/he think it's a spell/this love is too magic and he cannot tell / he fuck with my bruja, my pussy and spell/my toto is special, got locks like a jail/I'm finna sit back and just sip on Bacardi/you come to my party/you gone meet my army/a room full of girls, acting real rowdy.”

Shindy, Heartbreak Hotel (Textauszug Song 2016). Shindy sagt, „erzähl mir nichts von Frauenrechten, du hast Dollarzeichen in den Augäpfeln.“ 

Nicki Minaj, Barbie Dreams (Textauszug Song 2018). „Used to fuck with Young Thug/ain´t addressing this shit/caught him in my dressing room stealing dresses/shit.“

Kalter Kuss im kollektiven Kampf-Koma. Die Farbe dieser Zeit? Klinisch weiß. Bianco.

Einleitender Gedankenspaziergang

Gestatten, mein Name ist Wilhelm. Vielleicht kennen Sie mich, vielleicht auch nicht. Ob ich immer noch derselbe bin? Ja und nein, wer will schon einer nur von gestern sein.    

Am 6. April 2014 traf ich Lilian am Copley Square in Boston. Ich brauchte eine Pause nach langer Stadttour. Viele Menschen planen ihre Stadttouren, arbeiten eine Liste von Orten mit Stadtkarten ab. Ich dagegen fließe durch eine Stadt. Ich fahre immer zuerst in die Altstadt. Dort, wo alles begann. Ich schaue mich um, lasse Eindrücke auf mich wirken. Gebäude und Menschen. Sie kommen irgendwoher, zeigen irgendwohin. Ich schaue ihnen in die Seele, versuche den Energiefluss zu spüren. Es interessiert mich, wie sie leben, was sie essen, worauf sie ihr Handeln konzentrieren, was sie bewegt. Ich fange irgendwo an, weiß nie, wo ich ende. Die Altstadt verrät mir den Ursprung, den historischen Kern, um den sich alles aufbaute. In vielen Städten dieser Erde steht im Zentrum des Zentrums ein Gotteshaus. Warum?

Scheinbar zog es die Menschen an. Sie siedelten Ring für Ring um das hohe Gebäude. Ich wage mich hinein und bin in aller Regel sofort überwältigt. Ich zeige körperliche Reaktionen. Meine Haltung wird weniger aufrecht, ich senke den Kopf, verbeuge mich. Es ist fast so, als ob ich mich anmelde. Darf ich Gast sein in deinem Reich? Ich schaue mich um, gebe Acht auf die Details des Baustils und das ausgeführte handwerkliche Geschick. Wer ist hier zu Hause? Ich denke an sie. An die Menschen, die das erschufen, Menschen, die hier leben. Ich bedanke mich, dass ich sein darf, in ihrer Mitte. Ich fühle mich in ihre Gefühlswelt, sehe durch ihre Augen und passe mich an. Ich bin als Gast hier, das sollen sie wissen.

Dann verlasse ich demütig das Zentrum, trete heraus aus ihrer Mitte, schaue mich einige Zeit um. Wohin soll ich fließen? Ich fließe dahin, wo Menschen ihren Alltag erleben. Ich setze mich dazu und nehme sie wahr. Unauffällig. Ehrliches Interesse aus tiefem Herzen. Es ziert meine Augen. Es öffnet ihre Herzen. Geht es euch gut? Manche sind unruhig, andere ruhen in sich. Ich suche nicht nur nach Ruhe.

Dann, irgendwann, spreche ich die Menschen an und höre aufmerksam zu. Manche sind offen, andere verschlossen. Ich frage sie nach Lieblingsorten. Und gehe dann dorthin. Auf dem Weg erkunde ich die Stadt, lasse mich aber trotz Umwegen nicht verleiten, die Orte nicht zu finden. Die Orte sind vielfältig. Ich erspüre sie in all ihrer Schönheit. Dann gehe ich zurück zu den Menschen, berichte ihnen von meinen Erfahrungen, bedanke mich für die Empfehlung. So fließe ich durch fremde Städte. Vom Zentrum zu den Lieblingsorten der dort lebenden Menschen, zurück zu den Menschen und zurück in meine Welt.

So war es auch Anfang April 2014. Ich floss durch Boston und setzte mich auf eine Bank. Ich war wie immer müde Anfang April, meine Pollenallergie schlug mir auf die Sinne und das Gemüt. Davor konnte mich auch der amerikanische Blütenstaub nicht bewahren. In mir kam der Gedanke auf, eine kleine Pause in der nach dem langen Winter als so wunderbar stark empfundenen Sonne einzulegen. Als ich all die Taschen und die Jacke sicher neben mir verstaut hatte, schaute ich nach rechts und lächelte ganz plötzlich in mich gekehrt in die Welt, als ich wie zufällig, wie aus sonnigem, heiterem Himmel, Khalil Gibrans Erinnerungstafel neben mir entdeckte,  „it was in my heart to help a little because I was helped much“. Wie kann das sein? Was mache ich hier, wo bin ich? Irgendwo im Nirgendwo.

Lilly, die Jüngere

Khalil Gibran war der Lieblingsautor von Lilly, Wilhelms verstorbener Schulfreundin. Sie hatte ihm dessen Hauptwerk, der Prophet, geschenkt. Als Wilhelm nach dem Abitur seinem jugendlich-aufklärerischen Drang folgen wollte und nach London ging, nahm er es nicht mit. Sie wollte nicht, dass er ging. Sie wollte eine gemeinsame Zukunft in der Heimat. Sie wollte eine Familie gründen. Wilhelm wollte das auch. Er wollte nur kurz ein Jahr nach London. Er war nicht soweit, konnte mit dem Gedanken nicht umgehen, die Welt nicht erkundet zu haben. Es noch nicht einmal versucht zu haben. Schon einmal war er nicht gegangen, damals, noch während der Schulzeit. Warum wollen Frauen mich fest ketten, fragte er sich. Dieses Mal nicht. Der aufklärerische Drang war größer. Er war sich ihrer Zuneigung sicher. Zu sicher. Ihm war nicht bewusst, dass er mit dem Feuer spielte. Wilhelm liebte Lilly. Abgöttisch. Sie hatten sich gefunden ohne zu suchen. Sie meinten es gut mit sich. Anfänglich.

Schon in der 6. Klasse hatte sich Wilhelm das erste Mal in Lilly verliebt. Er sah sie auf dem Pausenhof beim Ping-Pong spielen. Ping-Pong wurde mit einem Tennisball in einem mit weißer Farbe umrissenen Rechteck gespielt. Eine Mittellinie teilte das Rechteck in zwei Felder auf. Mehrere Spieler versammelten sich auf jeder Seite, die nacheinander den Ball mit der flachen Hand über die Mittellinie auf die andere Seite spielten und nach ihrem Schlag auf die andere Seite liefen, um sich dort hinter den anderen Spielern anzustellen. Gefragt waren Geschicklichkeit, Schnelligkeit und Ausdauer. Der Ball musste und durfte im anderen Feld nur einmal den Boden berühren. Wer es nicht schaffte, den Ball in das andere Feld zu spielen, der „starb“. Jeder hatte drei Leben. Der erste Ball sollte „machbar“ sein, d.h. der erste Spieler musste den Aufschlag so spielen, dass der auf der anderen Seite stehende Spieler ihn ohne Probleme zurückspielen konnte. Sonst machte das Spiel keinen Spaß.

Jeder sollte zumindest die Chance haben, zu gewinnen.

Ab dem zweiten Ball war Kampf angesagt. Überlebenskampf. Die Jungs versuchten die ärgsten Widersacher rauszuschmeißen. Auch Wilhelm wollte nichts anderes, als die anderen Jungs rauszuschmettern, damit er und seine Freunde mit den Mädels spielten, während die anderen Jungs von außen dabei zusahen. Das schafften die Fußballer, zu denen Wilhelm sich zählen durfte, regelmäßig.

Beim direkten Spiel mit den Mädels gab es grundsätzlich zwei Strategien. Entweder man schmetterte drauf los. Das war eher die Brechstangen-Taktik bei dem Versuch, dem Mädchen zu signalisieren, dass man sie mehr mochte als andere. Wilhelm merkte ziemlich schnell, dass diese Strategie irgendwie nicht zum Erfolg führte. Also ließ er Milde walten und machte sich zur Regel, die Mädels, die er mochte, nicht mehr rauszuschmeißen, sondern ihnen zum Gewinn zu verhelfen. Das brachte ihm mehrfach aufreizende Blicke ein. Scheinbar eine gute Strategie. Check.

Irgendwann, ungefähr ab der 7. Klasse spielten die Mädels nicht mehr mit. Wilhelm spielte bis zum Schluss. Einmal, es war spät nachmittags, Wilhelm wartete noch auf seine Mutter, die sich angekündigt hatte, um ihn von der Schule abzuholen, spielte Lilly mit Freunden Ping-Pong. Sein Puls stieg an. Dann rollte der Ball in seine Richtung. Und Lilly lief dem Ball nach. Oh oh. Wilhelm zögerte. Er lief erst dann los, als sie schon fast dort war. Wilhelm, was soll das, dachte er sich. Wilhelm legte einen Sprint ein und war einen Hauch früher am Ball. Er hob ihn auf und warf ihn Richtung Feld. Lilly guckte ihn verdutzt an, rollte mit den Augen und lief zum Feld zurück. Wieso hast du das gemacht, dachte Wilhelm. Du Idiot. Entweder du bleibst sitzen oder du gibst ihr den Ball, aber warum wirfst du den Ball zurück zum Feld. Komplett daneben. Es ist vorbei. Lilly und Wilhelm, die romantische Zukunft dahin. Er hatte sich vorgestellt, wie er sie voller Mut fragen könnte, ob er sie zum Eis einladen darf, beim Eiswagen an der Schule, vielleicht irgendwann ins Kino. Da wären sie alleine im Dunkeln, er könnte ihre Hand berühren. Oder ihre, mhh, ok, bleiben wir vorerst bei der Hand. Das alles war nun vorbei. Ein Moment und die Welt am Abgrund. Doch dann ein Lichtblick. Lilly kam mit dem Ball auf ihn zu. Sein Puls schlug doppelt so hoch wie nach dem letzten Training.

Lilly: „Hey, willst du mitspielen, wir sind nur noch zu zweit.“ 

Wilhelm: „Na gut, weil du es bist.

Wilhelm konnte nicht aus seiner Haut. Er fühlte schäfchenwolken-hellblau und agierte gewittrig-dunkelschwarz. So spielte er auch. Nach einiger Zeit standen sich beide im Finale gegenüber. Er war mit den Gedanken bei ihr. Sie war mit den Gedanken beim Spiel. Wilhelm sagte „Schwimmer“, d.h. man hat noch ein Leben. Lilly hatte noch zwei. Dann kam der Ball zu Lilly, Wilhelm hatte all seine Liebe und die gemeinsamen Zukunftspläne in den Ball gelegt. Er spielte den Ball leicht, halbhoch, nicht zu schnell, ohne jede Schwierigkeit. Lilly schmetterte zurück. Der Ball titschte in Wilhelms Feld auf, sprang ihm in den Schritt und flog irgendwo ins nirgendwo. Wilhelm krümmte sich vor Schmerzen. „Genau drauf, also ehrlich.“ Lilly schaute auf die Uhr und sagte „oh, ich muss los“. Weg war sie. Wilhelm suchte den Ball noch ewig, suchte einen Grund sie anzusprechen. Gefunden hat er ihn nicht.

Dann, fünf Jahre später. Wilhelm hatte sich entschieden, die Sportlerklasse hinter sich zu lassen und das Abitur zu priorisieren. Sein erster Schultag in der 12.5. Er kannte kaum jemanden. Egal. Er sah das Klassenzimmer als Stadion und stolzierte hinein. Nase an der Zimmerdecke, Brust geschwollen vom hohlen Kreuz. Rotbraun vom Strand, leuchtende Badehose, Hemd. Er dachte, spielt die Hymne, der Boss läuft ein. Spaß, bleibt ruhig sitzen, klatschen braucht ihr heute nicht, ist ja kein Punktspiel.

Und dann sitzt sie da. Lilly. Sie schaut Wilhelm direkt in die Augen. Und trifft seine männliche Scham. Wilhelms Blick senkt sich sofort gen Boden, Schultern kippen nach innen und die rotbraune Hautfarbe ins Knallrote. Das Herz im Gesicht. Das Herz zeigt Gesicht. Das Herz hat Gewicht.

Anfangs sprachen sie nicht miteinander. Wilhelm trug Hemden und vertrat wertkonservative Ansichten. Das Wichtigste sei die Familie. Lilly lachte. Das Familienleben stellte er sich so vor, wie er es von seinen Eltern kannte. Da gab es wenig Spielraum für Diskussionen. Er wusste gar nicht, warum die Mädels lachten, wenn er seine für ihn sehr sinnstiftenden Monologe im Deutschunterricht startete. Zugegeben, Wilhelm hatte keine Ahnung von Literatur und alle Mädels um ihn herum hatten deutlich bessere Noten. Dafür habe ich eine Vorstellung von Familienleben, dachte er sich. Wilhelm wusste schon damals, was die Mädels erregt, etwas Dynamik ist immer gut. „Wir haben jetzt wirklich lange genug über Effi Briest gesprochen, so langsam läuft das Fass über, so schlimm ist der Baron jetzt auch nicht. Außerdem, wenn der draußen lang laufen würde, wüsste ich, wer mit der Nase am Fenster steht und kichert. Schluss jetzt, ich will Buddenbrooks lesen! Also, alle lesen übers Wochenende Thomas Mann, Montag gehts los, Dicker, du machst die Einführung. Und jetzt ist Ruhe hier im Hühnerstall!“ 

Spannende Zeit. Auf diese Weise traf der wertkonservative westdeutsche Wilhelm in einer mecklenburgischen Schule auf emanzipierte, sämtliche Möglichkeiten des Aufbruchs nutzende, nicht zuletzt deswegen blühende Mädels. Und er wurde von ihnen in allen schulischen Belangen deutlich übertroffen. Outperformed, würde man heute treffend sagen. Er hatte nicht den Hauch einer Chance. Und doch sollte auch er am Ende ein sehr gutes Abitur ablegen. Vielleicht deswegen. Spielt die Hymne, der Boss läuft ein.

Nach einigen Wochen näherten sich Wilhelm und Lilly an. Sie verbrachten die Pausen miteinander. Sie gab ihm ihr Pausenbrot. Dann ging das mit den Zetteln los. Lilly saß hinten links, Wilhelm hinten rechts. Klar saß Wilhelm in der letzten Reihe. Wo hast du denn gesessen? Also mussten die Zettel einmal durch die ganze Reihe wandern, hin und zurück, hin und zurück. Nach ein paar Tagen waren die Klassenkameraden sichtlich genervt, aber sie gaben die Zettel weiterhin ohne Murren weiter. Sie waren Zeugen eines Naturschauspiels. Was auf den Zetteln stand? Das spielte damals und spielt auch heute überhaupt keine Rolle. Es ging nur um die Aufmerksamkeit des anderen, um nicht mehr und nicht weniger.

Einige Wochen später ging die Klasse gemeinsam ins Kino. Lilly, Wilhelm, Kino? Da war doch was. Ach ja, das mit der Hand. Naja. Lichtspieltheater Wundervoll im Bahnhofsviertel. Metropolis. Harter Stoff. Wilhelm war mit seinen Gedanken nicht bei den Robotern der Unterwelt, sondern bei Lillys Geburtstag. Er wollte die Gelegenheit nutzen, ihr ein Geschenk zu machen. Er traute sich über das Seil. Sie schaute verlegen, bekam rote Wangen und lächelte. Strike! Als sie es zu Hause geöffnet hatte, bedankte sie sich sehr überschwänglich per SMS. Sie trafen sich, verliebten sich und gingen in gemeinsamer Mission zusammen in die Zukunft.

Was Wilhelm Lilly geschenkt hatte? Kinderschuhe.

Ihre Liebe hielt ein paar Jahre, in der Öffentlichkeit. Rumort hat es früher. Wilhelm war mit seinen Gedanken in London abhandengekommen. Die Stadt war so spannend. Wie viele Stunden saß er vor den Sonnenblumen in der National Gallery und fühlte sich in Vincents Leben. Wie oft las er in der Bibliothek der London School of Economics. Hier studieren, mein Traum. Als nichts ahnender Träumer erzählte er ihr von den durch seine neue Welt geschliffenen Träumen. Doch sie erkannte darin keine Schönheit. Für sie waren es Angriffe auf ihren Traum. Eine Kriegserklärung. Für sie bewarf er ihren Traum mit allem, was er erzählte. Er wusste nicht, was er tat, welchen Sturm er säte. Der Sturm kam als Stahlgewitter, es hagelte Handgranaten. Da hat wohl einer am Watschenbaum gewackelt. Wilhelm war sich keiner Schuld bewusst. Spielt die Hymne, der Boss läuft ein. Als ihr letzter Brief kam, weinte Wilhelm nicht. Sie kommt schon wieder, dachte er. Sie kam nicht wieder.

Wilhelm hat Lilly noch einmal gesehen, zwei Wochen vor ihrem Tod. Ihre Blicke trauten sich nicht in seine Richtung, obwohl sie spürte, dass er da war. Sie sah müde aus, vom Leben. Er wollte hin, sie schütteln. Doch ein Freund hielt ihn zurück. Lange konnte Wilhelm ihm das nicht vergeben. Er brachte ihn um die Chance, ihr mit einem Blick einen Traum in dieser so schönen Welt zu malen, sein letzter Versuch. Zwei Wochen später erhielt er die Nachricht. Banking District, Internet Cafe. Nachricht von Papa. „Mein lieber Sohn, wir erhielten soeben einen traurigen Anruf. Lilly ist gestern verstorben. Ruf uns zu Hause an und nimm den nächsten Flieger. Papa“. Und dann, erst dann, fing Wilhelms Ohr an zu weinen, riss alles mit sich runter, dann kam der Tunnel und brach Wilhelm gewaltsam. Er fiel in den Abgrund, torkelte stundenlang durch London, in diesen Stunden war seine Innenwelt außen und seine Außenwelt innen, auf der Suche nach und auf der Flucht vor der Realität. In jenen Stunden starben in Wilhelm tausende Träume, seine und ihre, einer nach dem anderen. Das war kein Wirbelsturm mehr, das war eine Flutwelle. Und dieses Mal konnte ihn selbst sein großer Bruder, der ihn so oft aus der Ostsee geholt hatte, wenn die Wellen mal wieder zu hoch schlugen, nicht mehr finden. Der Drachen nahm sich mehr als er durfte, sperrte Wilhelm in den Kerker seiner melancholischen Unterwelt. Wilhelm war traumatisiert. Ihm wurde sofort klar, hier war er nicht der Boss, hier spielte keine Hymne. Whisky. Whisky. Whisky. Noch einen. Whisky. Und dann alles wieder raus.

Er fühlte sich verantwortlich. Er hat sie nicht retten können. Warum bist du nicht hingegangen? Nie wieder wirst du nicht hingehen, nie wieder wirst du nicht hinschauen! Schau hin, geh hin, sprich an! Heute hat Wilhelm Frieden gefunden.

In seiner Welt sind Männer Helden. Er beruft sich auf Jahrtausende alte Traditionen. Seine bisherigen Erfahrungen haben ihm gezeigt, dass er sich auf sich verlassen kann, dass er die Welt auf seinen Schultern tragen kann, wenn erforderlich. Er hat sich befreit, hat mit dem Drachen gekämpft, seinen Schatten getroffen und ihn gebändigt.

Wilhelm hätte Lilly noch etwas sagen wollen, er hat es nicht mehr geschafft. Er hätte ihr sagen wollen, dass er jetzt ein Held ist, endlich bereit, ihr neue Träume zu entwerfen, für sie zu kämpfen, sie über die Fluten egal welcher Zeitenwende zu tragen, wie Christophorus.

Und so schreibt er stattdessen in den Himmel:

Befreiung der Proserpina 

Ich gehe für dich nach vorne, zur Seite, immer weiter

Ich gehe für dich nach hinten, zur Seite, immer weiter

Drehe wendig, schaue dich an, unfassbarer Begleiter

Sehe nur deine Augen, sie fragen, wirst du scheitern?

Dann kommt der Regen, spülte deine Welt ins Gewitter

Kenne viele Wege, kenne Abgrund, Blitze und Lichter

Stehe markant am Rand und jetzt schaust du mich an

Nimmst meine Hand, gehst nun unseren Weg entlang

 

Die Grundprämisse und das Ungewisse

Früher trieb mich das Ungewisse weg von meiner Grundprämisse,

heute fixiere ich die Grundprämisse und gestalte das Ungewisse.

 

Über den antizyklischen Kämpfer

In einem Meer voller Stärke zeige ich Schwäche

In einem Meer voller Schwäche zeige ich Stärke

 

Dunkle Wahrheit

Our children in child care.

Our parents in elderly care.

We don't care.

 

Osterspaziergang 2023

Vom Eise befreit sind die weiblichen Augen,

durch des Mannes holden, belebenden Blick.

In ihrer Scham grünet Hoffnungsglück.

Der alte Animus in seiner Schwäche

zog sich in raue Berge zurück.

 

Von dort her sendet er, fliehend,

ohnmächtige Schauer körnigen Eises,

in Streifen über männliche Flur.

Aber die Sonne duldet kein Weißes.

Überall regt sich Bildung und Streben,

alles will sie mit Farben beleben.

Doch an Blumen fehlt´s im Revier.

Sie nimmt geputzte Menschen dafür.

 

Über den Kampf des Helden zur eigenen Mission 

Und dann meldet sich Vater. Mein Sohn, sie werden auf dich schießen. Du gehst weiter.

Und sie werden auf dich einstechen wie die wildesten Horden. Du gehst weiter.

Und sie werden Steine schmeißen, um dich zu töten. Du gehst weiter.

Und du wirst ihre glühenden Augen sehen. Du gehst weiter.

Und wenn du umkehren musst. Du gehst weiter.

Und wenn du stirbst. Du gehst weiter.

Denn ich bin bei dir.

Und wenn du lebst. Du gehst weiter.

Und wenn du sprinten musst. Du gehst weiter.

Und du wirst ihre liebenden Augen sehen. Du gehst weiter.

Und sie werden ihre Herzen öffnen, um dich zu lieben. Du gehst weiter.

Und sie werden dich umarmen wollen wie die wildesten Horden. Du gehst weiter.

Du wirst weiter gehen, bis dein Zentrum in ihrer Mitte ist, dann zeige ich dir dein Reich.

 

All das und noch viel mehr flackerte in dem einen Moment auf, als ich Anfang April 2014 auf der Bank in Boston saß und auf Khalil Gibrans Gedenktafel schaute. Dann drehte ich meinen Kopf nach links, bevor ich meine Augen schließen und den Gedanken freien Lauf lassen wollte.

Da saß sie und lächelte mich an.  

Lilian: „Hey“.

Wilhelm: „Hey“.

Lilian: „How are you?

Wilhelm: „I´m fine, thanks. How are you?

Lilian: „Good, good. Oh dear, sunbathing, it can´t be better. What´s your name?

Wilhelm: „William“.

Lilian: „Hey William, I´m Lilian. But you can call me Lilly.

Wilhelm: „Ok, I call you Lilly but you should not call me Willy.

Sie sah mich verdutzt an, dann lachten wir aus tiefster Seele. Flachwitze, meine Spezialität, dachte Wilhelm und ließ weitere erheiternd-humoristische Eisbrecher folgen. Die Humorebene stimmt schon mal. Mal schauen, wie tief man mit Lilly fliegen kann. Ich fragte sie, wie es ihr geht und hörte ihr aufmerksam zu. Beide dachten, welch ein Zufall.

Lilian: „Ich gehe jeden Tag in die Kirche hinter dir und wenn die Sonne scheint, setze ich mich auf diese Bank. In der Kirche habe ich geheiratet. Geheiratet habe ich den Mann, der an meinem Bett stand als ich aus dem Koma erwachte. Ich hatte Krebs. Und er hatte heftig gestreut. Während der Chemo fiel ich ins Koma. Die Ärzte schüttelten mit dem Kopf. Auf diese Reaktion schüttelt er mit dem Kopf. Er hat mich nicht aufgegeben, hat an mich geglaubt. Die Schwestern haben mir gesagt, dass er jeden Tag da war und nach mir geschaut hat. Jeden Tag mindestens einmal, manchmal zwei Mal, er sah mich an, las mir vor, spielte Musik ab. Ich hatte immer frische Blumen. Wahrscheinlich versuchte er Kontakt aufzubauen. Und irgendwie hat er das wohl geschafft, denn als ich aufwachte, fühlte sich seine Anwesenheit vertraut an. Die Frage, warum er da war, stellte ich mir nicht. In mir entstanden weder Zweifel noch Fragen. Ich war mehr als vorher. Mir fehlen weiterhin die Worte. Als ob er mein Anker in dem Ozean dieser Welt war. Ich wusste nicht mehr, wie ich vorher war und konnte mir die Welt ohne ihn nicht mehr vorstellen.

Das war komisch für mich, verstand ich mich doch als unabhängige Frau, weißt du. Ich wollte mich nie wirklich binden. Ich habe die Bindung an einen Menschen immer mit Unfreiheit verbunden. Deswegen habe ich es bewusst nicht probiert, bin bewusst nie rausgeschwommen aufs Meer, um zu schauen, ob der jeweilige Mann mein Anker sein kann oder ich für ihn, wir füreinander. Das habe ich erst in dem Moment verstanden, als ich als dem Koma aufwachte und er an meinem Bett saß. Mein Held. Dieses Gefühl war so unfassbar erfüllend. Es war einfach da, hat sich ganz einfach seinen Platz genommen. In dem Moment, in dem ich alleine auf dem Meer geschwommen bin und nicht fern war vom Ertrinken, als ich mich nicht mehr steuern konnte, sondern schwach wie wir alle irgendwann einmal im Leben im Meer schwimmen, mich langsam bedingungslos aufs Untergehen vorbereitete, in dem Moment kam er irgendwoher und war mein rettender Anker. Ohne irgendwas zu fragen, ohne Bedingungen. Er war einfach da und stützte mich. Warum? Das ist eine gute Frage. Warum? Ich weiß es nicht.

Ich glaube. Ich glaube, seitdem. Ich glaube seitdem, dass er nach tiefgründiger Zwischenmenschlichkeit suchte. Ich suchte davor nie in dieser Tiefe. Ich bin bewusst nicht in diese Tiefe des Ozeans geschwommen, verstehst du, ganz bewusst nicht. Ich war immer gegen Verbote, habe gegen alles rebelliert, was auch nur den Anschein machte, mich einzuschränken. Ich hinterfragte mich nicht, ich schrie vorher los, vielleicht ging es mehr ums rebellieren als um das ehrliche Aufarbeiten der Frage, ob mich etwas wirklich einschränkt oder mir vielleicht doch gut tut. Irgendwer hat mir mal erzählt, da wo du am wenigsten hingucken willst, da findest du am ehesten das, was du am meisten brauchst. Hinterher ist es immer einfacher, die Situation zu erkennen.

Ich habe damals meine Impulse ausgelebt. Ich habe einfach gemacht, was ich wollte. Aber Bindungen, vor allem feste, bedingungslose Bindungen habe ich mir verboten. Ich ließ mir ein Hintertürchen offen, durch das ich im Zweifel jederzeit hätte verschwinden können. Bussi, bye bye. Aus heutiger Perspektive war das Selbstbetrug. Die Verbote kamen nicht von außen, sie kamen von innen. Ich habe sie mir selbst gegeben. Für Kinder war es dann zu spät, so sitze ich hier alleine.

Das tat weh, als ich es erkannte. Aber ich hatte Glück, er war da und ertrug meinen Selbstbetrug mit mir. Warum ich mir verboten habe, in dieser Tiefe zu tauchen? Ich weiß es nicht. Vielleicht sollte es nicht sein. Vielleicht war es nicht meine Aufgabe. Vielleicht wollte ich einfach nur gefunden werden. Vielleicht musste er kommen und sein Leben aufs Spiel setzen, um mir die Tiefe des Ozeans vor Augen zu führen, um mir die Schönheit des Meeres zu zeigen, den Mehrwert des schwerelosen Schwimmens in der Tiefsee, in der er mein Anker ist. Plötzlich schwamm ich in der kleinsten, aber für mich schönsten Nussschale in der Tiefsee und wollte nur noch dort sein. Ich fühlte mich zu Hause und wollte auch sein Anker sein. Das hört sich bestimmt komisch an.

Wenn ich mich so reden höre und das mit meinen Gedanken in meinen Zwanzigern vergleiche, es ist schlicht unfassbar wie verblendet ich war. Aber so habe ich es empfunden. Ganz ehrlich. Ich hatte Beziehungen, die waren von vorneherein auf Kurzlebigkeit angelegt. Ich formulierte Bedingungen. Jeder Akt der Zuneigung wurde hart verhandelt. Aus heutiger Perspektive betrachtet, hat sich das nie richtig angefühlt, aber ich hatte ja keinen Vergleich. Der Gedanke einer langfristigen Verbindung dieser Art kam in mir gar nicht auf, ich habe ihn mir verboten, habe mein hin und wieder durchscheinendes Verlangen danach in mir als empfindliche Stelle, als Schwäche interpretiert. Ich empfand mich als unterdrücktes Opfer, jeden Mann als potenziellen Ausnutzer dieser Schwäche. Vollkommener Wahnsinn, ich vertraute niemandem, also nicht wirklich tiefgreifend, weißt du, ich ließ die bedingungslose Zweisamkeit nicht zu. Die musste er mir erst zeigen. Er musste voran gehen und mir beweisen, dass es diese Bedingungslosigkeit überhaupt gibt und dass vor allem er sie eingeht. Damit hat er mich sozusagen aufgetaut aus meiner eiskalten Schockstarre, in die mich die hartherzige Eiskönigin versetzt hatte. Aus einer Eisblock-Scheinpuppe wurde ein lebender Mensch, der Gefühle empfinden und in der Tiefsee tauchen konnte. Später habe ich ihm dann alles gegeben, alles was ich hatte, und noch viel mehr. Am Ende hatten wir beide viel mehr als vorher. Das war einfach toll. Da kommen diese Fragen nach dem Sinn des Lebens, die ich mir früher manchmal stellte, gar nicht auf. Heute sitze ich trotzdem alleine hier, ohne ihn, habe nur die Erinnerung und warte. Für Kinder waren wir leider zu alt.

Du musst das aber auch verstehen. Meine Mutter war alleine, sie war eine starke Frau. Ich wollte auch eine starke Frau sein. Meine Mutter liebte meinen Vater bedingungslos und ich sah wie sehr sie das kränkte, dass er nicht da war. Das wollte ich nicht. Wir sind aus der Ukraine geflohen, meine Mutter und ich, kurz bevor die Nazis kamen. Meine Mutter sagte immer, das Geld reichte nur für zwei Tickets. Mein Vater wollte da bleiben, bis er das Geld für sein Ticket zusammen hatte, dann wollte er nachkommen. Aber vielleicht ist mein Vater ganz bewusst nie zu uns gekommen, vielleicht hat er damals in der Ukraine eine andere kennengelernt, vielleicht hat er dann mit den Nazis kollaboriert. Er war ja kein Jude. Nur Mama und ich. Wer weiß das alles schon. Für mich war er jedenfalls nie da.

Wilhelm: „Vielleicht hat er es aber auch versucht und hat es nicht geschafft. Weißt du, mein Großvater war in Stalingrad und drei Jahre in russischer Kriegsgefangenschaft, im Gulag, und keiner wusste, wo er war. Meine Großmutter war die Einzige, die daran glaubte, dass er lebt und dass er alles tut, um wieder zu kommen. Sie wartete, wartete und wartete. Ihr Glauben war bedingungslos. Vielleicht war es ihr Glauben, der meinen Großvater dazu brachte mit zwanzig Kameraden einen Tunnel zu graben. Sie gruben drei Monate und hielten es geheim. Stell dir das vor, im Gulag. Solschenizyn hat es beschrieben. Alle gingen in den Tunnel, nur sieben kamen am anderen Ende an, zwei von zwanzig kamen am Ende lebendig zu Hause an. Mein Held. Das Holz, aus dem ich geschnitzt bin. Vielleicht hatten die Achtzehn keine Frauen, die bedingungslos an sie glaubten und ihnen jeden Tag dadurch, dass sie an die gemeinsamen Orte gingen, durch die Luft Kraft zusandten. Wer weiß es schon.

Lilian: „Ja, ich weiß, man kann in beide Richtungen denken.

Wilhelm: „Wie so oft in diesem Leben. Deine Mutter hat nicht gedacht.

Lilian: „Ja, heute weiß ich warum nicht. Sie glaubte an ihn und das hielt sie am Leben. Mein Mann ist jetzt seit zehn Jahren tot und dennoch komme ich jeden Tag hierher, zu unserer Kirche, in der wir ganz klein, mit zehn Gästen geheiratet haben. Jeden Tag ein wenig Gemeinsamkeit. Jetzt warte ich auf ihn, wie er damals auf mich wartete und wie er jetzt wieder auf mich wartet. Wir warten aufeinander, mal wieder.

Zwei dicken Tränen kullerten aus Lillys Augen, über ihre Wangen, liefen über ihre zu einem traurig-freudigen Lächeln zusammengedrückten Lippen, und tropften von den Lippen auf die vor ihrem Körper gefalteten Hände.  Und noch zwei. Und noch zwei. Wilhelm weinte mit und lächelte sie an.

Lilian: „Wer die Nussschale in der Tiefsee einmal gefunden hat, der benötigt keine Worte. Hast du sie schon gefunden, sag?

Wilhelm: „Tja, wenn ich das wüsste. Ich hab mir ein paar Mal die Finger verbrannt beim Versuch ihnen meinen Ozean zu zeigen. Jetzt bin ich erstmal Eisbär. Im Zweifel bleibe ich das auch. Aber wenn ich dich früher getroffen hätte und wüsste, dass man mit dir tauchen kann, dann hätte ich dich verhaftet und wir wären stundenlang getaucht.

Auch dieser bedeutungsschwangerer Einwurf von Wilhelm traf Lillys Herz und für einen kurzen Moment funkelte in ihren Augenwinkeln dieses eine ganz bestimmte Begehren.

Wilhelm: „Es ist nie vorbei, Lilly, nie. Aber das Funkeln wahrzunehmen, es auch zu genießen, aber nicht weiterzugehen, das ist der Deal, wenn du lange in der Nussschale der Tiefsee schwimmen willst. Beide gestehen sich das Funkeln zu. Das ist für mich ok. Aber nicht so offensiv. Aber dann ist Schluss. Sonst ist Schluss.

Wie hieß er denn, dein Held?

Lilian lachend: „Willy. Aber nur ich durfte ihn so nennen!

Wilhelm: „Mhhh, genau.

Sie lachten sich an.

Die Kraft, von der Lilly dann erzählte, scheint nicht tot zu sein. Still alive. Eine Idee kann nicht sterben, sie kann nur nicht gelebt werden. Renaissance ist wohl möglich. Also nehmen wir die Lupe in die linke Hand, das Skalpell in die rechte, nehmen allen Mut zusammen und fangen irgendwo an.

Lilian: “Wenn ich die Kraft beschreiben soll, die mich jeden Tag trägt, dann klingt es sicherlich träumerisch und mystisch, aber ich mag Mythen und ich mag Träume. Ich versetze mich in uns Menschen hinein, versuche zu verstehen, wie wir denken, handeln und fühlen. Also erzähle ich dir jetzt, was ich empfinde, wenn ich mich in die Idee dieser Kraft hineinversetze:

Ich bin eine für das menschliche Bewusstsein nicht in der ganzen Fülle erfassbare Kraft. Ich bin größer. Größer als alles, was ihr euch vorstellen könnt. Aber ihr könnt mich ansatzweise wahrnehmen. Der Aufmerksame hat mehr von mir. Ich versuche mich euch zu zeigen. Aber ihr müsst euch auch für Wahrnehmungen öffnen. Ein erster Schritt ist, zu akzeptieren, dass es eine Kraft gibt, die größer ist, als ihr, als euer Bewusstsein. Diesen Schritt kann jeder gehen. Wer diesen Schritt nicht mitgehen kann, aus welchem Grund auch immer, wird nicht mit mir entlang meiner Strukturprinzipien durch mich, mit mir und in mir emotional ästhetisch, fließend wachsen können. Das sollte klar sein.

Ich zwinge euch nicht, wer bin ich, euch zu bewerten. Ihr seid freie Geister.

Ich bin Teil jeder noch so kleinen Einheit dieses Universums. Wer mich wahrnehmen will, der muss sich mir unterordnen. Und da ich Teil jeder kleinen Einheit bin, muss er sich jeder noch so kleinen Einheit unterordnen. Er muss geschehen lassen, was geschieht. Er muss seinen Weg erfühlen. Aus diesem Grunde sende ich Emotionen aus. Hört auf sie und überprüft den Weg mit eurem bewussten Verstand.

Manche Menschen fragen, wozu ihr mich braucht. Ihr sagt, die Erde dreht sich auch ohne mich um den Mond. Die Pflanzen, Tiere und Menschen leben und sterben auch ohne mich. Was soll ich dazu sagen. Geht spielen. Denn sie wissen nicht, was sie tun. Was wäre, wenn ich mich wirklich mal zurücklehnen würde? Man stelle sich vor, man stelle sich vor, man spielt ein Spiel, dabei hat der Initiator das Spiel gar nicht angesetzt.  

Also Vorsicht, mein Spiel besteht seit Jahrmillionen. Das ist die Perspektive, unter der du mich betrachten musst. Ich begleite die Menschen auf ihrem Weg wie jede andere Existenz auch, bin jederzeit zur Anpassung bereit, lebe primär in Bereichen, die noch nicht vom bewussten Wissenschaftsstreben erkundet wurden. Ich lebe in der Dunkelheit, im Zufall, im Unwissen, im Unbekannten. Derzeit vor allem im Unbewussten.

Hier lebe und kämpfe ich für euch. Jeden Tag aufs Neue. Ich bin eine Kraft. Auch ich wachse, mit euch, insofern können wir gemeinsam spielen. Manche von euch wollen ohne mich spielen. Das könnt ihr machen, ich nehme es euch nicht übel, aber wundert euch nicht, wenn andere am Ende kräftiger wachsen. Und nochmal, Vorsicht, ich lebe seit vielen Jahrtausenden, trage so viel Weisheit in mir, wie sie ein Menschenleben niemals alleine hervorbringen kann.

Wenn du mich leugnest, verdrängst, beschreibst, musst du wissen, was du tust.

Manche haben mich versucht zu beschreiben. Nicht jeder Versuch gelingt. Manche haben es geschafft und tiefgreifende Momentaufnahmen erzeugt. Ihr nennt sie Kunstwerke und sie überwältigen viele von euch. 

Das ausgesprochene Bekenntnis des Glaubens an mich ist nur der Hauch meiner Existenz in eurer Realität, eine formale Spitze des Eisbergs, der wiederkehrend bewusste Willensakt, dass wir eine gemeinsame Vision haben. Sprich ihn aus oder nicht. Wer bin ich, dich zu bewerten. Ich bin nur ein Angebot und will dir bei deinem Wachstum helfen. Doch ich präge das Leben deiner Vorfahren seit Jahrtausenden. Das sollte dir bewusst sein. Schon deswegen ist die Realität in deiner Gemeinschaft, der Umgang der Menschen mit sich und der Welt, maßgeblich durch Geschichten von und über mich geprägt. Du kannst versuchen, ohne mich zu wachsen, wähle deinen eigenen Weg, doch zu meinen Weisheiten wirst auch du wieder und wieder zurückkehren.

Wir haben uns in der Wellenbewegung des Zeitgeistes mal wieder vernachlässigt. Aber jetzt scheinen wir uns zu fehlen. Du fehlst mir. Und dir fehlt meine Kraft, die euch aus der Situation, in der ihr euch befindet, zielsicher emotional ästhetisch in den Zustand fließenden Wachstums führen kann. Das Bedürfnis nach einer Vision, nach einem intensiven gegenseitigen Austausch wird wieder ansteigen. Höre auf dein Bauchgefühl. Sei aufmerksam und ehrlich. Sprich deine Wahrheit laut und deutlich aus. Schlag mir die Tür nicht vor der Nase zu, es könnte sich für dich in deinem Wachstumsprozess lohnen.“

Brief von einer Frau

Lieber Wilhelm,

lange habe ich überlegt, wie ich diesen Brief beginnen soll, damit er zum Ausdruck bringt, was mir auf der Seele brennt. Es war falsch lange zu zögern und zu überlegen, das ganze Gedankenwirrwarr ist davon nicht besser geworden. Nun wurde ich fast in die Situation gedrängt, es schnellst möglich nieder zu schreiben, um es Dir zukommen zulassen. Ich gehe davon aus, dass Du erahnen kannst, was mich bedrückt. Es mag nicht der richtige Weg sein, Dir diese Dinge schriftlich nahe zu bringen. Deshalb wollte ich auch ständig an einem neutralen Ort mit Dir reden, um Dir vieles zu sagen, was ich damals schon oft angeschnitten hatte.  

Vermutlich werde ich hier nur einen winzigen Anriss zu Papier bringen, da es mir wahrlich unmöglich erscheint, meine Gedanken und Gefühlen erschöpfend nieder zu schreiben. Es tut mir leid, dass ich mich in den vergangenen Tagen nicht annähernd an die Grenze „SELTEN“ rückend bei Dir gemeldet habe. Um ehrlich zu sein, hatte ich neben dem Fakt des Zeitmangels keine Muße mich mit Dir am Telefon zu streiten, wie es in letzter Zeit eigentlich stets der Fall war. Und das alles nur wegen fehlendem Verständnis und mangelnder Unterstützung. Ich wollte mir die Zeit deiner Abwesenheit nicht durch oberflächliche Diskussionen kaputt machen.

Das Weiteren hatte ich ein Gefühl in mir, welches ich nicht geordnet bekam. Du hast damals gemeint, dass die Zeit uns stärken wird oder nicht. Ja, Du hattest Recht, gestärkt hat es. Aber es hat mich gestärkt, nicht uns. Vielleicht hat es Dir ebenfalls unzählige neue Eigenschaften eröffnet und Dich gefestigt. Irgendwann um Weihnachten herum, schrieb ich Dir einen mächtig langen Brief, in dem ich Dir viele Erlebnisse von mir schilderte. Es ging unter anderem darum, dass ich ein Jahr nur mit mir zu kämpfen hatte. Ein Jahr voller Analysen und Auseinandersetzung mit Ängsten, Verlusten und meinen Gefühlen. Es tat verdammt weh, aber es hat mir sehr geholfen. Du weißt, dass ich früher ein paar Eigenschaften von Dir kritisiert habe, weil sie mir auf Dauer zu nahe gingen. Was ich damit nur sagen möchte, dieses Jahr gab mir Zeit, Zeit nur für mich. Zeit, die ich ehrlich gesagt nie gewollt und nicht im Entferntesten gebraucht hatte. Doch Du gabst sie mir. Nie hatte ich verlangt, mehr Zeit zu bekommen. Meinen Zeitplan richtete ich stets korrekt aus, so dass nichts auf der Strecke blieb. Nun war ich aber alleine und gewann mehr und mehr Zeit.

Du hast mir Deine Pläne erzählt, von Deiner Zukunft geträumt, Deine Familie in Gedanken ausgemalt, eine Familie, die tief im Herzen durch die Liebe zusammen gehalten wird. Liebe, ein Wort, dessen Bedeutung für mich fast unerträglich ist. Deine Frau soll Dich lieben, ewig zu Dir stehen, meintest Du. So eine Frau werde ich niemals sein, zumindest nicht für Dich. Über das zu Dir stehen und für einander da sein, brauchen wir nicht zu diskutieren. Das sind Dinge, die würde ich sehr gerne übernehmen und meine Versprechen halten. Doch Liebe? Nein.

Momentan habe ich etwas, dass mich einigermaßen erfüllt, etwas, dass mir augenblicklich ziemlich gut tut. Glücklich und ganz zufrieden werde ich nie sein, zu diesem puren Glück fehlt mir einfach zu viel ... Dinge, die ich niemals mehr richten kann und Ereignisse, die verstrichen sind.  

Erst Recht geht es nicht, dass Du fort gehst und urplötzlich wieder da bist und alles wie vorher sein soll. Ich friere schon nach einer Woche ein. Den Glauben an das baldige Auftauen habe ich verloren, ich vermute eher, dass ich in meiner Position zu Dir vorerst verharren werde. Die Idee mit Dir aus der Heimat wegzuziehen, hat nicht an meine Tür geklopft. Das bedeutet, dass Du alleine umziehen wirst. Ich will nicht mehr warten.

Erinnerst Du noch das erste Telefonat nach Deinem Weggang. Wie sehr haben wir geweint. Es war verdammt schwer, Dich gehen zu lassen. Diesen Schmerz habe ich nie vergessen, doch ich bin darüber hinaus gewachsen und werde nicht mehr aus Gefälligkeit meine Dinge zurückstellen. Dieses Mal stecke ich nicht zurück. Es ist mit Sicherheit egoistisch, aber für mich kamen irgendwann erst meine, dann unsere Dinge. Wenn dafür überhaupt noch Zeit blieb.

Der Vergleich ist hart, aber innerlich spüre ich außer der uns verbindenden Vergangenheit, keinen Unterschied zu einer anderen Person. In den Monaten haben sich Freundschaften wieder gefestigt und ich will ihnen nicht gleich bei der nächsten Gelegenheit vor den Kopf stoßen. Sie sollen sich nicht so fühlen, als wären sie nur Ersatz für Dich gewesen.

Egal, ob wir Zeit füreinander hatten, konnte ich nicht mit ansehen, wie Deine Freunde mich ansahen, als ich mit einem Freund wegging. Ich ging nur aus. Ich hoffe mal, dass Du mich besser kennst. Was geht sie das überhaupt an.

Es tut mir leid.

Lilian: „Hui, solche Zeilen kenne ich nur zu gut. Ihr habt zu wenig gesprochen, euch zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Irgendwer ist irgendwann einmal aus der Rolle gefallen, aber ich weiß nicht, wer es war.

Wilhelm: „Weißt du es nicht oder willst du es nicht wissen?

Lilian: „Ich weiß es nicht. Man kann doch Probleme nicht nur bei einer Seite suchen. Wahrscheinlich war in diesem Fall der Mann zu schwach und die Frau dadurch verwirrt.

Wilhelm: „Das sehe ich ähnlich. Der Mann muss die Initiative ergreifen und aus seiner verantwortungslosen Lethargie erwachen.

Vielleicht

Möchtest du darüber reden?

Warum darüber reden, das ist Vergangenheit.

Mich interessiert deine Vergangenheit, sie gehört zu dir, vielleicht bin ich auch irgendwann Vergangenheit, willst du dann auch nicht über mich reden?

Vielleicht.

Ok, das nennt sich dann wohl direkt. Es ist nicht schön, das zu hören, es macht uns so, wie soll ich sagen, vergänglich.

Sind wir das nicht?

Mhhh, schwierig, für mich nicht. Deine Gedanken verletzen mich. Ich glaube dir nicht.

Was glaubst du mir nicht?

Ist doch kein Problem, nur weil ich dir nicht glaube.

Ich habe kein Problem, ich verstehe nur nicht, was du mir nicht glaubst.

Für mich ist die Vergangenheit eines Menschen sehr wichtig und wir beide verbringen gerade Zeit zusammen, für mich werden diese Momente immer präsent bleiben, egal was passiert. Ich werde noch so oft daran denken, mir selbst davon erzählen und schmunzeln. Diese Erinnerungen sind für mich sehr schön, sie geben mir Kraft und machen mich glücklich.

Vielleicht unterscheiden wir uns da, ich schließe mit Lebensabschnitten ab und erinnere mich selten daran. Ich sehe wenig Sinn darin ständig von der Vergangenheit zu erzählen. Man erlebt doch tagtäglich genug, es wartet so viel auf uns.

Siehst du, auch das glaube ich dir nicht. Manchmal kommst du mir vor, als ob du so weit weg bist, als ob du ein anderer Mensch bist. Ich spüre, dass du nicht so sein kannst. Ich glaube dir nicht, dass du ernsthaft meinst, die Vergangenheit eines Menschen wäre nicht wichtig.

Hab ich das gesagt?

Du hast gesagt, dass du keinen Sinn darin siehst, von der Vergangenheit zu erzählen und dass du dich selten erinnerst. Das glaube ich dir nicht.

Vielleicht ist es aber so.

Dein Vielleicht überzeugt mich nicht, es weicht aus, es ist alles und nichts. Vielleicht rede ich über meine Vergangenheit und vielleicht nicht, vielleicht liebe ich dich, vielleicht auch nicht. So kann ein Mensch nicht sein.

Ich liebe dich und das weißt du auch.

Nein, das weiß ich eben nicht, wenn du nicht mit mir über deine Vergangenheit sprichst!

Was soll das, kleine Details auf diese grundsätzliche Ebene ziehen. Meine Liebe hat nichts mit der Vergangenheit zu tun, wichtig ist, dass sie jetzt da ist und vor allem, dass sie zukünftig bleibt.

Kleine Details? Es geht um Vertrauen, das du mir nicht entgegen bringst. Ohne Vertrauen kann es keine liebevolle Beziehung geben und ich habe das Gefühl, du vertraust mir nicht.

Ich vertraue dir. Ich habe allerdings gerade das Gefühl, als ob du mit der Brechstange versuchst, das Haus, in dem meine Vergangenheit lebt, aufzubrechen. So einfach geht das nicht. Wenn du mit einem Menschen in seiner Vergangenheit sein darfst, bist du besser unbewaffnet. Ich gehe selber selten in das Haus. Ich weiß nie, was dort passiert. Es kann sein, dass ich mich in eine vergangene Situation hineinfühle und bemerke, dass ich gerade nicht so glücklich bin wie damals. Das würde alles verändern. Vertrauen ist das eine, eine widerstandsfähige Verlässlichkeit zu entwickeln das andere. Wonach suchst du, wenn du Vertrauen meinst. Vertraue ich dir mehr, wenn ich dich jederzeit mit in das Haus nehme, ohne zu wissen, was dort passiert oder erscheint es dir auch als vertrauenswürdig, wenn ich dir versichere, dass ich die Zimmer dieses Hauses vor unserer Beziehung so aufgeräumt habe, dass ich sie im Zweifel nie wieder betreten muss. Du hast eine gesunde Gefühlswelt in mir vorgefunden, keine Altlasten, das scheint mir sehr wichtig. Wie ist es denn bei dir? 

Aha! Du lenkst schon wieder ab, nur weil du meinst, dass du intelligent genug bist, dir irgendeine Geschichte auszudenken, gebe ich noch lange keine Ruhe. Du wirst eines Tages in dieses Haus zurückkehren müssen, wenn du mit mir zusammen leben willst. Und das etwas passiert, müssen wir dann wohl in Kauf nehmen, ändern kann ich es nicht.

Ich denk darüber nach. Sag mal, wie war das damals eigentlich bei dir, warum habt ihr euch getrennt?

Darüber will ich nicht reden!

Aha.

Erik

Erik, großer Bruder. Du bist gestorben am 18. Juli. Ich bin geboren am 19. Juli. Du lebst in mir weiter, lebst solange ich lebe. Ich werde dir alles zeigen, egal wie weit ich dafür gehe. Im Garten hast du gespielt, wie ich es tat. Im Pool hast du gebadet, wie ich es in der Ostsee tat. Mama hat uns laufen lassen, obwohl du einst nicht wieder kamst. Unsere gemeinsame Heldin. Du bleibst unser großer Bruder und wir vermissen dich. Stell dir vor, wir wären immer zu fünft. Wie Weihnachten. Ich habe noch einen großen Bruder, es ist dein kleiner Bruder. Einmal bin ich mit ihm nach stundenlangem Fußballspielen zur Ostsee gelaufen, zur zweiten Sandbank geschwommen, er war zuerst da, zuerst auf der Welt, zuerst am Strand, zuerst auf der zweiten Sandbank und längst wieder am Strand, als mir die Wellen auf dem Rückweg von der Sandbank aus dem Rücken so hoch um die Ohren schlugen, dass ich es vielleicht nicht mehr rechtzeitig geschafft hätte, so wie du es nicht geschafft hast. Er hat meine Rufe gehört, ist, erschöpft wie er war, wieder in die See, zu mir geschwommen, hat mich unter Wasser gefunden und an den Strand gebracht. Wir haben es Mama nicht erzählt. Ich habe Mama auch nichts gesagt, als ich, so jung wie ich war, eine Zigarette mit den älteren Jungs geraucht habe. Aber sie hat es sofort gerochen und der Schwindel flog auf. Schwindeln bringt nichts, das habe ich früh gelernt. Kannst du dir merken. Ich hab noch so viel mehr Mist gebaut. Der Schwindel flog immer auf. Schwindeln bringt nichts, das musste ich früh lernen. Heute dürfen Kinder keinen Mist mehr bauen. Sie lernen nicht mehr, dass Schwindeln sich nicht lohnt und dass, damit man seine Geschwister vor dem Ertrinken retten kann, die Geschwister fast Ertrinken müssen. Du bist ertrunken. Ich wurde gerettet. Du lebst in mir weiter. Wenn ich schwimme, schwimmst du, wenn ich tauche, tauchst du, nimm meine Luft zum Atmen. Wir teilen, Bruder.  

Brief an einen Freund (2014)

Ich bedanke mich von ganzem Herzen für Deine Post. Die Antwort schreibe ich Dir sicher nicht aus Pflichtbewusstsein gegenüber einem Freund, es ruft aus mir, sie zu formulieren und Dir mitzuteilen.

Meine Suche nach einem Weg in diesem Wald voller Versuchung und Verschwendung scheint mir Deiner ganz ähnlich, wenn auch jeder seinen eigenen Weg finden muss.

I.  

Beginnen möchte ich mit den Zeilen von Graf von Moltke, der in Berlin Tegel inhaftiert, den Strick und seine Lebensleistung vor Augen, am 11. Oktober 1944 folgende Zeilen an seine Söhne schrieb. Es sind die Zeilen eines Vaters, der nichts mehr für seine Kinder tun kann, außer ihnen Worte mit auf den Weg zu geben, kein letzter Blick, keine Umarmung.

„Ich habe mein ganzes Leben lang, schon in der Schule, gegen einen Geist der Enge und der Gewalt, der Überheblichkeit und der mangelnden Ehrfurcht vor Anderen, der Intoleranz und des Absoluten, erbarmungslos Konsequenten angekämpft, der in den Deutschen steckt und der seinen Ausdruck in dem nationalsozialistischen Staat gefunden hat.“

Je öfter ich diese Zeilen lese, je mehr wird mir bewusst, dass ich ihm zustimme. Er beschränkt sich - für einen selbstreflektierten Menschen in seiner Situation emotional nachvollziehbar - auf uns Deutsche. Ich möchte in meinen Ausführungen auf seine Worte aufbauen, möchte den Blick aber weiten, den strengen Fokus seiner Situation lösen und uns Menschen betrachten. Ich möchte mit Geschichtsbewusstsein - Erinnert Euch! - ohne Schuld leben und eine Betrachtung wagen, die in mir gewachsen ist und die zu dem Fundament gehört, auf das meine Familie die nächsten Generationen aufbauen wird. Ich bin überzeugt, dass der Plan, der scheinbar in uns angelegt ist, durch intellektuelle Auseinandersetzung modifiziert werden kann. Der Weg ist beschwerlich und wird nicht nur unsere Generation in Anspruch nehmen, aber er ist erforderlich, um die Ereignisse in unserer gemeinschaftlichen Seele zu verarbeiten und unsere Kinder zumindest seelisch nicht mehr damit zu belasten. Dieser Weg führt dabei immer wieder an die eigenen physischen und psychischen Grenzen entlang der Stadien der Selbstreflektion, der Selbstkritik, der Selbstzweifel und des tatsächlichen Verinnerlichens der Änderungsinformation. Ich möchte einen anderen Maßstab von Stolz und Ehre entwickeln, der auf viele traditionelle Werte, auf die Werte des Humanismus, der Aufklärung und auf meinen Glauben gründet. Auf diesen Maßstab will ich meinen Treueschwur leisten, zu ihm will ich mich loyal verhalten, darin meine geistige Heimat finden. Diesen Maßstab will ich konsequent leben - nicht alles in uns war und ist schlecht, Graf Moltke - und ihn werde ich als meine Identität verinnerlichen und mit allem, was ich habe, verteidigen. Jeder Mensch hat eine Identität, rein tatsächlich, und jedem Menschen steht es frei, sich dafür zu entscheiden, seine Identität zu belassen oder etwas zu verändern. Ich will unsere Identität verändern - intellektuell.

Unsere (Ur)Großeltern haben nicht nur die Identität, sie haben die Existenz unter ihnen lebender Menschen - Mitgliedern der Gemeinschaft - systematisch in Frage gestellt. Und dabei denke ich auch an die Euthanasieprogramme. Verstehe mich nicht falsch, ich will keine negative Energie erzeugen, in dem ich vorwerfe, ich spreche sachlich an und werde meinen Maßstab für die Zukunft anders ausrichten.

Damals wurden die Begriffe der Stärke und Schwäche definiert, sie belegten den Begriff der Schwäche negativ und nahmen dem vermeintlich Schwachen aktiv die Existenzgrundlage.

Das ist gegen mein Gottesverständnis. Ein Gott, der alles ist, der diese Welt in ihrer Vielfalt geschaffen hat, der jedem Menschen Stärken und Schwächen, Talente und Interessen verliehen hat, der uns Menschen zugleich ein Verantwortungsbewusstsein zur Selbstverwaltung auf der Welt gegeben hat, der kann es nach meiner tiefsten Überzeugung nicht wollen, dass wir anhand dieser Begriffe aktiv Leben strukturieren. Der Glaube steht im Mittelpunkt meiner Identität (des erwähnten Maßstabes), aber wie alles, in seiner konkreten Ausprägung intellektuell reflektiert, im Detail streitbar. Wir dürfen nicht blind folgen - niemandem - müssen uns unseres eigenen Verstandes bedienen. Unsere (Ur)Großeltern haben viel gewollt und alles aufs Spiel gesetzt, sie durften dennoch in selbstbestimmter Freiheit wieder aufbauen. Unsere Eltern haben weiter aufgebaut und uns materiell versorgt. Wir haben heute so viel Wohlstand, dass uns Verschwendung möglich ist. Unsere Generation ist aufgerufen, der nächsten Generation eine Identität zu verleihen, die sie mit dem Wohlstand umgehen lässt, die ihnen ethisch und moralisch reflektierte, gesunde Werte mit auf den Weg gibt. Ich will meine Lebensenergie diesem Weg widmen. Was können wir sonst für Väter sein, in diesem Wald der Versuchung und Verschwendung. Auf diese Identität sollen auch meine Kinder einen Treueschwur leisten (können), der ihnen geistigen Halt geben (kann), der sie einen Sinn erkennen, eine geistige Heimat finden lassen (kann), der einen Weg zu innerer Zufriedenheit ebnen (kann). Denn auch unsere Kinder werden selbstbestimmte Menschen sein, die ihre eigenen Wege intellektuell gehen und erleiden müssen. Dennoch will ich ihnen einen gesunden geistigen Nährboden anbieten.

Moltkes Zeilen waren nicht vergebens: Ich will raus aus der intellektuellen Enge, ich bin grundsätzlich gegen Gewalt, ich fordere und biete Respekt, ich fordere und biete Toleranz und ich versuche diese Werte in die Identität meiner Familie zu integrieren.

II.

Die Identitätsbildung beginnt für mich bei einer tief in mir verankerten Überzeugung, dass jedem Menschen die Gleichheit unter Menschen als inherent dignity naturrechtlich inne wohnt. Jeder weitere Gedanke sollte diesen Keim unverkennbar in sich tragen. Hier findet sich die natürliche Gegebenheit der bei allen Menschen gleich ausgeprägten Zuordnung zur Menschheit, der Ursprung des menschlichen Gleichheitsgedankens.

Zugleich aber sind die Menschen verschieden und jeder einzelne Mensch entwickelt in der Gemeinschaft ein Ich mit eigenen Interessen. Zum Wesen dieser Einzelinteressen gehört es, sich entfalten zu wollen. In einer Gemeinschaft ergeben sich auf diese Weise übereinstimmende und widerstreitende Interessen. Wenn die bei widerstreitenden Interessen auftretenden Konflikte mit dem Instrument der Gewalt gelöst und personenbezogen Interessen durchgesetzt werden, steht der Träger des Interesses im Mittelpunkt der Konfliktlösung. Es ist dann unbeachtlich, welches Interesse überwiegt, entscheidend ist, wer es verfolgt. Werden dagegen die Interesseninhalte unabhängig von ihrem Träger abgewogen und auf einer eigenen Sachebene (Interessenebene) in Ausgleich gebracht, rückt die Gleichbehandlung der Interessenträger (Personenebene) in den Vordergrund - deswegen Rechtsstaatlichkeit!

III.

Das Bewusstsein von uns Identitäts- und Sinnsuchenden ist geprägt von einem grundlegenden Dilemma: Wir können unsere „Schwäche“ erkennen und dennoch scheint es uns, als würde von uns ausschließlich „Stärke“ erwartet. Selbst der Schwächste will stark sein („oben sein“) und nutzt Gelegenheiten zur Demonstration von Stärke. Jeder Mensch ist gezwungen, mit diesem Dilemma umzugehen. Jeder Mensch löst es auf seine Weise, der Umgang damit ist facettenreich, manche erkennen es nicht und wissen nicht, was sie tun, manche erkennen es und nutzen es aus, andere erkennen es nicht, folgen blind, machen das, was ihnen von anderen als Bestimmung aufgetragen wird; manche handeln nach klaren Maßstäben, andere situativ als Fähnchen im Wind; manche erkennen, ertragen die Erkenntnis aber nicht und gehen freiwillig, andere erkennen und geben sich selbstlos hin.

Wer bin ich, andere zu richten.

Aber ich habe das Recht und empfinde die Pflicht, meine eigene Identität zu suchen. Das gehört zu den großen Errungenschaft des Humanismus: der selbstbestimmte Mensch. Ist es Schwäche, wenn ich den Versuchungen der Welt, die Gott für uns geschaffen hat, nachgebe? Ich weiß es nicht! Zuvor stellt sich aber doch eine andere Frage, wer hat die Definitionshoheit über die Begriffe der Stärke und der Schwäche inne? Für mich habe ich diese Definitionshoheit. Aus dem Nährboden des Bewusstseins darüber, dass der Einzelne die Definitionshoheit über die eigenen Werte inne hat, wächst letztlich auch der Spross des Willens der aktiven Inanspruchnahme dieser Möglichkeit. (Noch) hat nicht jeder diesen Willen zur Inanspruchnahme der Definitionshoheit. Wir müssen weiter warten. Vielleicht unsere Ururenkel.

Nietzsche hatte eigene Begriffe für diesen Willen, aber die intellektuell Enttäuschten haben sie derart ideologisiert, dass eine aufbauende, ehrliche öffentliche Auseinandersetzung derzeit nicht möglich erscheint.

Jung hat den beschwerlichen Weg gewiesen, als Prozess der Individuation, und dabei richtig erkannt, dass der Einzelne in der Definitionshoheit seiner Werte, beispielsweise der Begriffe Stärke und Schwäche, beschränkt ist. Er ist beschränkt durch, lass es mich mit meinen Worten sagen, Erfahrungen, die seine Vorfahren gemacht haben und die im Menschen als individueller und kollektiver Erfahrungsschatz konzentriert - abstrakt - gespeichert sind. Ich nenne sie abstrakte Strukturprinzipien, es sind reale Erklärungsmuster. Physischer Speicherort ist das Gehirn. Je älter die Gehirnregion, je älter die Strukturprinzipien. Der Prozess des „Auslesens“ der Strukturprinzipien, also des Erfahrungsschatzes unserer Vorfahren, findet im Zusammenspiel zwischen Physis und Psyche über Emotionen statt, vor allem aber in dem unsichtbaren Raum, den wir „Psyche“ nennen. Altgriechischer Wortstamm. Sehr altes Wort. Im Mittelhochdeutschen rezipiert als sele. Die Seele. Feminin. Die Wörterbücher definieren sie als die Gesamtheit dessen, was das Fühlen, Empfinden, Denken eines Menschen ausmacht. Oder auch als substanz- und körperloser Teil des Menschen, der nach religiösem Glauben unsterblich ist, nach dem Tode weiterlebt. Keiner weiß, ob dieser Raum sich auf den „Innenraum“ des Menschen, alles unter der Haut befindliche beschränkt. Wir assoziieren die menschliche Psyche mit dem Kopf, „der ist im Kopf nicht ganz richtig“. Es deutet aber vieles darauf hin, dass diese Assoziation zu kurz greift. Sinnesorgane, die Informationen auf welchen Wegen auch immer in diesem Raum bereitstellen, befinden sich nach eigener Erfahrung im ganzen Körper verteilt und, darüber muss weiter nachgedacht werden, auch außerhalb meines Körpers. Handlungen anderer Existenzen haben Einfluss auf meine Psyche. Sogar dann, wenn ich sie nicht bewusst wahrnehme.

Nietzsche hatte Recht, es ist an der Zeit, dass wir über uns hinauswachsen. Er hatte nur zu wenig Zeit, es uns in ruhiger, bodenständiger Art darzulegen, da ihn seine durch Krankheit verknappte Lebenszeit zur ausbeuterischen Nutzung von Physis und Psyche zwang, er seine Zeit nur noch auf den hohen Abstraktionsebenen verbrachte. Alles, um uns zumindest an einigen seiner Weitblicke teilhaben zu lassen, denn diese können nur die Wenigsten wagen. Über die wenigen weitblickenden Worte rätseln Forscher seit mehr als einem Jahrhundert. Das sollte als Nachweis reichen, wie viele von uns einen Weitblick wie Nietzsche haben.

Die Fähigkeit, diese Perspektive einnehmen zu können, ist bestimmt durch Abstraktionsfähigkeit. Im Mittelpunkt steht das Verständnis von sich als durch die Erklärungsmuster der Vorfahren determiniertes und limitiertes Wesen, das die Aufgabe hat, sich sein Selbst bewusst zu machen und es in dem jeweiligen Wachstumsstadium des Universums, wir sagen in Zeit und Raum, innovativ interpretiert zu entfalten. Das Universum wächst wiederkehrend fließend. Nur zu vermuten ist bislang, welchen Zweck das menschliche Bewusstsein im Universum einnimmt. Es könnte ein Instrument sein, um disharmonische Zustände, unästhetische Fließhemmnisse im Universum zu beseitigen. Das würde die alte buddhistische Doktrin erklären: Leben ist Leiden. Möglichweise ist das menschliche Bewusstsein eine Art Notzustand im Menschen. Es soll den Menschen von einem Ausnahmezustand in den Nicht-Ausnahmezustand führen, in dem der Mensch wieder schwerelos, ohne Leiden, emotional ästhetisch im Universum wächst. Vielleicht schaltet sich das menschliche Bewusstsein bei kollektivem Erreichen eines Nicht-Ausnahmezustandes als Notzustand (wieder) ab und der Mensch wächst wieder unbewusst. Noch sind Spekulationen erlaubt. Fehlschüsse gehören zur Aufgabe des guten Jägers. 

Nun gut, wenn Dir das zu weit geht, wovon ich ausgehe, treten wir einen Schritt zurück. Aber ich werde mich an diesen Aussagen messen lassen. 

Ich kann mir also fremde Definitionen aneignen oder eigene entwickeln. Was vielen nicht bewusst ist, jeder Mensch definiert tatsächlich durch seine Existenz, bereits in dem Zustand des Seins, Wertvorstellungen. Er agiert sie aus, seine Wertvorstellungen und damit auch seine Definitionen von Stärke und Schwäche. Einfach indem er ist, indem er handelt, kommuniziert und Entscheidungen trifft. Viele sind sich der höheren Abstraktionsebenen aber nicht bewusst, sondern blicken zusammenhanglos auf einzelne Handlungen und bewerten sie. Dahinter stehen bei jedem Menschen Prinzipien, nach denen Interessenkonflikte oder bestimmte Situationen gelöst werden. So präsentiert ein Lügner, jedes Mal, wenn er mit einer für ihn unangenehmen Situation konfrontiert wird, die beispielsweise aufdeckt, dass er eine ihm zugewiesene Aufgabe nicht erledigt hat, eine Lügengeschichte, in der falsche Fakten so zusammengebaut werden, dass er die Aufgabe nicht erledigen konnte. Während die Auslegung und Umdeutung wahrer Fakten als Spielen mit der Wahrheit erlaubt sind, ist das Denken und Handeln auf Grundlage unwahrer Fakten Selbst- und Fremdbetrug zugleich. Es ist nicht nur Fremdbetrug, es ist vor allem Selbstbetrug. Man kann sich die Strukturprinzipien auch als viele kleine Persönlichkeiten in dem einzelnen Menschen vorstellen. Die Persönlichkeit des Lügners, die wohl jeder in sich hat, scheint eine Art Abwehrstrategie zu sein, um eigene Versäumnisse sich selber und anderen nicht eingestehen zu müssen. Der Lügner verändert vor sich und anderen wahre Fakten und ändert sie aktiv in unwahre Fakten um. Er manipuliert dadurch sein Weltbild und das Weltbild anderer. Er verkompliziert. Er und andere integrieren im Zweifel die unwahren Fakten in ihr Weltbild und laufen dadurch Gefahr, ihm zu glauben und sich damit von der Wahrheit zu entfernen. Der Lügner missbraucht die Struktur des zwischenmenschlichen Vertrauens für seine Manipulation. Je mehr gelogen wird in einer Gemeinschaft, desto gefährdeter die Vertrauensbeziehungen. Durch das Lügen definiert der Lügner seine eigene Welt als Parallelwelt. Diese spiegelt er anderen vor. Es bleibt aber eine (individuelle) Scheinwelt, die von der wirklichen Welt abweicht. Manchmal kann der Lügner eine ganze Gemeinschaft von einer erlogenen Scheinwelt überzeugen, so dass die gesamte Gemeinschaft nach den Mustern dieser erlogenen Scheinwelt agiert. Wenn diese Scheinwelt in komplexen, abstrakten Mustern von intelligenten, kreativen Menschen gestrickt wird, ergibt sich eine Ideologie. Doch diese Ideologien sind dem Untergang verdammt, denn sie bauen auf Lügen auf, entfernen sich (zunehmend mehr) von den wahren Fakten und das Entfernen von der Wirklichkeit merken die Menschen über Emotionen, denn durch die Erklärungsmuster ihrer Vorfahren ist in ihnen ein Instinkt-Mechanismus eingespeichert, der teils bewusst teils unbewusst Scheinwelten und Wirklichkeiten voneinander unterscheidet. Wenn Gemeinschaften von solchen Ideologien besessen sind, entwickelt sich eine Scheinwelt als Blase, die zunehmend den Abgleich mit den wahren Fakten verhindern muss, weil Menschen wiederkehrend das Bedürfnis haben, wahre Fakten abzugleichen und ihr Prüfungsergebnis allen zu präsentieren. Häufig nennen wir diese Präsentationsergebnisse Kunstwerke. Die meisten nehmen wir aber nicht wahr, nur die Spitze des Eisbergs, viele sind aber auch flüchtig, vergehen schnell. Um die Scheinwelt (Blase) durch die Kunstwerke nicht platzen zu lassen, leugnet die Ideologie die über die Kunstwerke ausgedrückten wahren Fakten und diffamiert, zerstört, beseitigt sie. Zensur der Kunstwerke. Einschränkung der Meinungs- und Kunstfreiheit. Meist werden die Personen aktiv diffamiert, ausgegrenzt und ein Anti-Narrativ aufgebaut, meist, und das ist das Perfide, aus der Gruppe heraus gegen eine Person, so dass der Künstler, der nicht anders kann als seine Prüfungsergebnisse der Gemeinschaft zu präsentieren, alleine gegen die Gemeinschaft gestellt wird. Darunter leidet er massiv, will er doch zur Wahrheit verhelfen. Aber die Scheinwelt kann den Abgleich mit den Prüfungsergebnissen nicht dulden, da andernfalls irgendwann ihre Inkohärenz aufgedeckt würde.

Die Konfrontation mit den wahren Fakten nach dem Platzen der Blase ist für Individuen wie auch für die Gemeinschaft als Kollektiv zu schwer zu fassen. Die individuellen Gehirne müssen die „neuen“ wahren Fakten in ihr Weltbild, ihre Identität, integrieren. Dafür sind Anpassungsrechnungen von enormen Ausmaßen erforderlich, da meist die durch die Ideologie geprägten Handlungsmuster grundlegend falsch sind, jedenfalls sehr einseitig. Viele Individuen sind nicht fähig, in kurzer Zeit diese Anpassungen im Gehirn zu vollziehen, so etwa, wenn sie keinen Zugang zu den jeweiligen Abstraktionsebenen haben, um dort die Anpassungsarbeit bewusst zu erledigen. Diese Individuen benötigen im Grunde andere, von ihnen respektierte Individuen, die ihnen neue Handlungsmuster vorleben, die sie imitieren können. Die sind hingegen noch nicht tradiert vorhanden. Also herrscht Chaos in manchen Köpfen. Es fehlen neue, sich an den wahren Fakten orientierende Weltbilder. Diese können aber wohl, wie Jung sagt, aus dem kollektiven Unbewussten hervorgeholt werden. Dort sitzen die Archetypen, die in allen Mitgliedern der Gemeinschaft abstrakt gespeichert sind. Auf diese Archetypen rekurrieren in der Regel auch die Kunstwerke, wodurch sie für viele so wahrnehmbar besonders und prägend sind.

Es scheint uns sehr schwer zu fallen, ein System zu finden, dass uns langfristig die Wirklichkeit nicht leugnen lässt. Jedenfalls schwanken wir derzeit von Ideologie zu Ideologie. Das System müsste berücksichtigen, dass das Universum ständig in Wellenbewegungen fließend wächst. Strukturen müssen sich also ständig anpassen. Fakten, die heute als wahr zu qualifizieren sind, können übermorgen unwahr sein. Ein System, dass heute wahre Fakten definiert und nicht bereit ist, genau diese Fakten übermorgen der Unwahrheit zu überführen, läuft Gefahr in einer Scheinwelt zu münden. Das erschwert die Systemfindung natürlich enorm. Doch was gilt als wahr? Nähern wir uns. Eine Wahrheit oder Unwahrheit von Fakten gibt es auf verschiedenen Abstraktionsebenen. Schon mal etwas.

Auf einer sehr hohen Abstraktionsebene gilt dann als wahrer Fakt, dass Individuen und Gemeinschaften in Bezug auf die Wahrheit der Fakten anpassungsfähig und flexibel bleiben müssen. Je nach Standpunkt und Ausprägung der Wellenbewegung, ist der Weg der Welle nachzuempfinden, mitzugleiten, Umbrüche sind einzuleiten. Hier sei ein Querverweis an den Daodejing erlaubt. Individuen und Gemeinschaften dürfen sich also nicht in sich und ihre derzeitigen Wertvorstellungen verlieben, sondern müssen ständig anpassungsfähig bleiben, ihr Leben als ständigen Prozess der Transformation begreifen und Umbrüche als Normalität annehmen, um in den Wellenbewegungen fließend zu wachsen. Was heute wahr ist, kann also übermorgen unwahr sein. Das ist eine wichtige Lektion. Die Frage ist also, wie verhalte ich mich als Individuum, gibt es Strukturprinzipien, die mich mit der Welle fließen und die Umbrüche frühzeitig erkennen lassen, damit ich Chaos, Stürze in den Abgrund und gewaltsame Umbrüche vermeide? Ein solcher Versuch waren (und sind) Religionen, die eine Art Idealbild formulieren mit Erlöserfiguren, die demütig und freiwillig das Leiden von notwendigen Anpassungen und Umbrüchen annehmen. Zwischen dem Leiden erledigte das „Alltagsgeschäft“, zumindest in der westlichen Welt, der säkularisierte Staat. Doch Nietzsche hat zu recht festgestellt, dass Gott tot ist, dass wir ihn und wie man diese Kraft auch immer nennen mag, in uns getötet haben, ihn zu sehr angezweifelt und dadurch die positiven Wirkungen der Religion auf das Individuum und die Gemeinschaft vergessen haben. Insofern hat sich die Gefahr, kollektiv in eine Scheinwelt zu geraten, Ideologien aufzusitzen, seit Nietzsches Aussage nicht verringert. Auch wenn junge Künstler wieder mehr Transzendentes thematisieren, die grundsätzlichen Denkmuster der Religionen werden derzeit weiterhin wenig ausagiert. Es herrscht weiterhin und zunehmend Chaos in den Köpfen. Nietzsche sagte, wir werden niemals genug Wasser haben, um all das daraus resultierende Blut wegzuspülen. Er prognostizierte die Massenmorde des 20. Jahrhunderts. Wir müssen aufpassen, dass wir die Wellenbewegung des 21. Jahrhunderts nicht verpassen und vom Weg abkommen. Derzeit wanken wir und fließen nicht harmonisch, emotional ästhetisch. Aus dem Drama des Dritten Reiches wollten wir lernen, haben das Grundgesetz etabliert. Es deutet uns den Weg bisweilen gut. Dennoch ist es naturgemäß sehr abstrakt und wird derzeit sehr weit gedehnt. So werden beispielsweise mit der Anti-Diskriminierungskeule notwendige Abgrenzungen zerschlagen. Das hat Auswirkungen. Wir wanken. Dazu tritt das Wanken vieler anderer Gemeinschaften im globalen Kontext. Es verstricken sich viele Ebenen von Themen wie Digitalisierung, Globalisierung, sozialer Wandel, Öffnung der Kulturen und Märkte. Das Wanken ist multidimensional, es rüttelt an den Grundfesten aller Kulturen. Die europäischen Staaten scheinen naiv, in sich gekehrt und wenig wehrhaft gegenüber riesengroßen Spielern, rein auf materiellen Hinzuerwerb ausgerichteten privaten Unternehmensentitäten. In unserer Gemeinschaft arbeiten sehr viele Männer und Frauen den ganzen Tag im Rahmen dieser Unternehmen. Die Kinder wachsen in Kindertagesstätten auf. Es werden Studien veröffentlicht, dass das gut wäre für die Kinder. Die älteren Menschen leben bei uns in Altenheimen, in denen absoluter Pflegepersonalmangel herrscht. Eine Gemeinschaft zeigt ihr Gesicht, wie sie mit ihren Alten, Kranken und Schwachen umgeht. Wie sie mit ihren Familien umgeht. Ich wünsche mir, dass Künstler wieder eine Madonna mit Kind zeichnen. Haben wir denn nichts gelernt? Wie viele Alte Meister sollen es uns noch lehren wollen?

Zurück zum Lügen. Eltern sollten folglich darauf achten, dass Kinder mit eigenen Versäumnissen umzugehen lernen und sich die Lügner-Persönlichkeit nicht automatisch als dominante Struktur in bestimmten Situationen etabliert. Wo wir dann beim Thema „Schwäche“, Offenheit, Ehrlichkeit und Vertrauen wären. Natürlich können die Wirkmechanismen bzw. Persönlichkeiten später noch verändert werden, aber das ist harte psychische Arbeit. Nach meiner Erfahrung muss dafür eine andere dominantere Struktur bzw. Persönlichkeit etabliert werden, die in den Situationen dann dominanter ist als die des Lügners.

Gleiches gilt für Sucht-Persönlichkeiten. Über Jung ist zu lesen, dass er es oft geschafft hat, deutlich dominantere Persönlichkeiten im Menschen aufzubauen. Ein Weg hierfür ist sicherlich der Prozess der Individuation.

Jeder kann also sein Bewusstsein verändern. Aus dieser Fähigkeit wächst die Verantwortung für das eigene Handeln. Da Menschen handeln, reflektieren und dann anders handeln können. Aus meiner menschlichen Existenz, aus meinem Selbst, dem Nukleus der Menschenwürde, erwächst mein ureigenes Recht, mich für eine Definition, eigene Wertvorstellungen, einen eigenen Umgang mit den Begriffen der Stärke und der Schwäche zu entscheiden. Es gehört ebenfalls zu meinen Recht, diese Entscheidungen zu kommunizieren und es ist auch mein Recht, ein Empfinden von Respekt gegenüber Personen auszudrücken, die nach meinem Dafürhalten einen guten Umgang mit dem aufgezeigten Dilemma gefunden haben. Diese Rechte erwachsen mir alle aus meiner Existenz als Mensch auf dieser Welt und aus der Fähigkeit, mit Sinnen zu empfinden. Ich will Verantwortung tragen und will nach eigenen vernunftbasierten klaren Maßstäben Vorbild sein - so weit die Füße tragen! Mit dem letzten Halbsatz gestehe ich mir Schwächen, Zweifel, Krisen und Scheitern zu. Sie gehören zum Leben des derzeitigen Menschen. Vielleicht interessieren dich folgende Zeilen, die ich einmal für dich aus deinen Augen schrieb und die ich dir bei Gelegenheit zukommen lassen wollte. Die Gelegenheit scheint passend.

Mein Wille – Mein Weg

Wenn du meiner Jugend Erlösung versprichst

Wahrt die Pflicht dem Verlangen das Gesicht

Mein Wille wird stärker, ein Wille der bereut

Bleibe mir treu, trage zu Grabe was ihr scheut

mein Licht ist für dich nicht in Sicht, für Dich

das ist mein Weg - du bist nicht mein Gericht

 IV.

Ich habe ein eigenes Herz, eigenen Verstand, eine eigene Geschichte und die Fähigkeit zur Reflektion. Auf dieser Grundlage empfinde ich Mitgefühl sowie Respekt und aus diesen Empfindungen erwachsen meine Vorbilder.

Manche Zeit ist geprägt von Persönlichkeiten, die mit Herz und Verstand einen Weg zu ihrer Vision von Identität, Frieden und Freiheit für eine Gemeinschaft durchsetzen. Lange habe ich nach einer örtlichen Heimat gesucht, heute fühle ich mich als Deutscher in einem Europa des Friedens zu Hause.

An welchem Platz und in welcher Rolle ich wirke, welche Wege mir in meiner Zeit offen stehen und welche Wege nicht für mich gemacht sind, weiß nur mein friedens- und glückseligkeitsstiftender Gott - an den ich glaube, dem ich vertraue. Ohne ihn scheint mir meine Existenz auf der Welt in der zeitlichen Dimension der Ewigkeit ohne Sinn. Meine Existenz nur auf das derzeitige Naturverständnis zurückzuführen, scheint meinem Verstand noch vermittelbar, mein Herz aber verweigert sich. Gott ist der Zufall, er erklärt das Ungewisse und ich habe das Gefühl, der Zufall spielt weiterhin eine große Rolle. Deswegen glaube ich an Gott, deswegen springe ich im Moment meiner tiefsten Selbstzweifel in seine Arme und lasse mich treiben durch Wasser und Wind, lasse geschehen, was geschehen muss.

Mein Anspruch bleibt auf mich selber gerichtet, es ist und bleibt der Anspruch eines einzelnen Sinnsuchenden, mehr bin ich nicht. Aber das, was ich leisten kann, werde ich leisten. Das ist einer meiner originären Triebe in dieser stürmischen Welt, die säht, wässert und wachsen lässt, die Sonne bietet und vor zu viel Sonne schützt, die stürmt, zerstört und tötet, die dann wieder säht, wässert und wachsen lässt.

Dabei ist mir wichtig, mich ständig näher an die Erkenntnis meiner Schwäche heranzuführen und mich zu einem Umgang mit eben dieser zu entschließen. Dabei helfen Vorbilder im Geiste gewiss. Dennoch reflektiere ich ihr Verhalten, denn sie sind Menschen und fehlbar wie ich - sie sind nicht Gott. Ich mache mir die Konsequenzen ihres Handelns bewusst und erleide meinen individuellen Weg - rational wie emotional – das ist mein Umgang mit dem Dilemma. Das Bewusstmachen von Schwäche tut weh, es zieht Energie und kränkt. Deswegen macht es nicht jeder. Das Ertragen von Schwäche ist Ausdruck von unglaublich starken Geisteskräften. Derjenige, der erkannt hat, dass und in welchen Bereichen er schwach ist, der aber wird den Lohn starker Wurzeln erhalten, die starke Stürme, Dürre, Kälte und Lebenskrisen aushalten.

V.

Doch Vorsicht, in vergangenen Zeiten wie auch in heutiger Zeit werden Worte missbraucht, um jungen Menschen den Sinn vorzugaukeln, ihre Verantwortung wäre es, sich selbst zu opfern. Sie werden emotionalisiert, verleitet, geben ihr Wertvollstes, ihr Leben, und nehmen ihren Müttern damit den Lebenssinn. Häufig sind es die Enttäuschten, die ihre Schwäche nicht einzuordnen wissen in einer Gesellschaft der vermeintlichen Stärke, die das System nicht verstehen, es nicht schaffen, ihre Stärken zu erkennen, die einen Platz einfordern, den sie nach unserem derzeitigen System nicht erreichen können. Doch diese enttäuschten Menschen würde es auch in anderen Systemen geben, denn wir Menschen tragen die Schwäche und das erwähnte Dilemma in uns. Wenn ein System bestimmte Eigenschaften als stark definiert, werden nicht alle Menschen zugleich stark sein können - wir Menschen sind verschieden! Die Kunst ist es, in einem gewissen Rahmen ein offenes, vielfältiges und tolerantes System zu entwickeln, in dem jeder seine Stärken ausleben kann und seine Schwächen nicht verheimlichen muss. Dann wird die Enttäuschung abnehmen. Egal wie die Begriffe der Stärke und Schwäche gesellschaftlich und systematisch mit Leben gefüllt werden, es wird Menschen geben, deren Erwartungen enttäuscht werden. Es sei denn, es ginge nur darum, sein Selbst zu verwirklichen (siehe oben). Aber davon sind die allermeisten Menschen heute weit entfernt und unser derzeitiges System aus Stärke und Schwäche ist nicht darauf angelegt. Aber wir sollten nicht das System verantwortlich machen, denn wir definieren das gesellschaftliche System, wir können es auch ändern, das Problem liegt in uns, im einzelnen Individuum, konkret im Erwartungshorizont. Demut! Wir können das Problem in uns, im Individuum, lösen.   

Dabei ist jede Machtposition Ehre und Pflicht zugleich. Die Pflicht zur Übernahme von Verantwortung für andere Mitglieder der Gemeinschaft - nach dem Prinzip der grundsätzlich gleichen Behandlung aller Mitglieder in ihrer Würde als Menschen. Dafür steht jeder ein und wenn das Prinzip verletzt wird, steht jeder in der Verantwortung, die Konsequenzen zu ziehen. Derjenige, der den in der Verantwortung Stehenden bewusst aus der Verantwortung bringen will, steht mit seinem Handeln vor Gottes Gericht - auch und gerade, wenn er sein Ziel erreicht. Die Frage ist dann, welchen Motiven er folgt, ob er sich auf ein anderes System berufen kann, das die Mitglieder der Gemeinschaft objektiv besser stellt und das sie mehrheitlich befürworten. Aber auch dann, ein Systemwechsel ist immer eine Art ultima ratio in einer Gemeinschaft, wenn der bestehende Zustand menschlich, ethisch, moralisch, emotional nicht mehr zu ertragen ist. Die Realität im Dritten Reich war meines Erachtens nicht zu ertragen, deswegen war Widerstand wie der aus Kreisau aus dem Gedanken an die Zukunft der Gemeinschaft heraus gerechtfertigt. Und dabei meine ich nicht nur die Gemeinschaft einzelner Teile der heutigen Bundesrepublik, sondern ich meine mit Gemeinschaft Europa und die Welt. Das ist die Dimension meines Gemeinschaftsbegriffes. Individuum, Familie, Freunde, Deutschland, Europa, Welt. Ich bin überzeugt davon, dass Grundlagen unserer europäischen Existenz Frieden und Freiheit sind und bin überzeugt davon, dass - bei allen Dingen, die derzeit nicht optimal laufen - ein vereintes Europa mit starken Souveränitätsrechten der Mitgliedsstaaten langfristig notwendig ist. Das ergibt sich nicht zuletzt aus unserer Stellung in einer Welt, in der sich einzelne Länder nur schwer auf sich zurückziehen und mit sich alleine beschäftigen können. Gerade ein Land wie unseres ist wirtschaftlich eingebunden in die gesamte Welt, wir leben ohne existenzielle Sorgen, achten die Menschenwürde, wir können unproblematisch reisen, es bestehen internationale Gremien, in denen wir Verantwortung tragen und die sich - nach ihrem jeweiligen Dafürhalten - über globale Themen verständigen. Es scheint mir äußerst problematisch, das Zusammenwachsen in Mitteleuropa ändern zu wollen und nicht zu akzeptieren, dass unsere Gemeinschaft großflächig Zuwanderung und auch die Integration anderer Religionen und Kulturen dringend benötigt. Nicht nur zur Erhaltung der Errungenschaften unserer Vorfahren, auf die wir uns berufen dürfen,  sondern vor allem zur weitsichtigen Konfliktvermeidung. Im Zeithorizont von Jahrhunderten werden wir diese Vermischung nicht aufhalten können - ich will es auch gar nicht, ich begrüße Vielfalt. Ich glaube viel eher, dass wir in Westeuropa langfristig Wohlstand abgeben müssen, um den Frieden zu erhalten. Mir gefällt das Grundgesetz und viele der gelebten Werte in Deutschland. Mein Ansatz der kulturellen Veränderung für mich und meine Familie ist friedlich, freiheitlich, er ist demokratisch, er achtet die Menschenwürde, er glaubt an Gott und Europa, er will verändern, aber systemintern, er setzt beim einzelnen Mitglied der Gemeinschaft an.

Nach dieser groben Gedankenskizze flüchte ich mich in die Gegenwart zu Käthe Kollwitz, die sagte: „Ich will wirken in dieser Zeit!“ Das will ich auch und halte Kurs! Ich suche nach einem Weg in diesem Wald voller Versuchung und Verschwendung, ich suche seit ich klein bin und werde auch noch suchen, wenn ich alt bin - ich bin ein Träumer.

Ein Träumer also mit dem starken innerlichen Bedürfnis Verantwortung zu übernehmen. Ich stehe in der Verantwortung gegenüber meiner Familie, Freunden und der Gemeinschaft, in der ich lebe. Wenn die Stunde kommt, in der ich gebraucht werde, werde ich da sein, doch sie ist für mich nicht in Sicht. Im Gegenteil, den grundsätzlichen Weg empfinde ich als positiv, wir haben ein großes Glück! Unsere Vorfahren haben den Frieden erkämpft, unsere Eltern den Wohlstand. Wir sind aufgerufen, unseren Kindern eine gesunde Identität zu entwickeln.

Gehe deinen Weg mit festem Schritt, hinterlasse Spuren, bediene dich deines Verstandes und kontrolliere den Weg über dein Herz - erinnere dich an das anfängliche Gedicht!

Dein Wilhelm

Vom Dasein des Künstlers

Erst surfen die Künstler eine Welle. Dann springen die Schriftsteller auf. Wenn die Welle am größten ist, kommen die Philosophen und surfen durch den Tunnel des Umbruchs mit ihren großen Brettern, die das Meer unter sich vereinen können. Die Soziologen sitzen mit Windjacken auf dem Segelboot, schauen sich das bunte Treiben mit dem Fernglas an, kommen aber ob des lauen Sommerwinds nicht vorwärts, sind verängstigt von der Kraft des Meeres. Sie berichten den Geschichtsschreibern mit hochrotem Kopf. Die ruhigen Geschichtsschreiber liegen am Strand und schweigen zu den Berichten, sie nehmen ihre Arbeit erst dann auf, wenn die nächste Welle heran bricht.

Alltag an der sommerlichen Ostseeküste.

Doch warum ist der Künstler der Erste auf der Welle? Was macht ihn aus? Tja, vielleicht ist es die Eigenschaft etwas in vollkommener Schönheit, in atemraubender Schönheit zu sehen, etwas, das vorher noch nicht in dieser Schönheit gesehen wurde. Er sieht die Welle als erster, wenn sie für andere nicht sichtbar ist, wenn sie sich noch nicht einmal aufbaut. Er sieht sie nicht nur, er spürt sie. Das klingt unheimlich. Ist es auch, jedenfalls für heutige Menschen. Der Künstler unterscheidet sich bereits vor dem Heranbrechen der Welle von anderen. Denn er ist ständig in Kontakt mit dem Meer. Es zieht ihn an. Unbewusst. Er geht hin, schaut hin, fasst an, geht rein, vor allem dann, wenn andere ängstlich sind. Er fühlt sich gut damit. Er kommt in den Zustand innerer ausgeglichener Ruhe, obwohl das Meer ständig in Unruhe ist. Es ist ständig im Umbruch. Dem Meer gestehen die Menschen den Umbruch zu, sich selbst nicht. Zum gesunden Wesen des Meeres gehört die Unruhe, zum gesunden Wesen des Menschen bislang nicht.

Nach diesem Verständnis gilt Folgendes: Der Künstler kommt zur Ruhe in der Unruhe. Er fühlt die Verwandtschaft. Das Meer ist einer der großen Organismen, dem nach derzeitiger menschlicher Sicht auf die Welt ständige Unruhe zugestanden wird, deswegen ist Künstler und Künstlerin gern am, im, auf dem Meer. Der Künstler und das Meer.

Es ist des Künstlers Fähigkeit, ein zuvor kaum beachtetes Detail der Außenwelt in einer kommunikativen Formensprache zu beschreiben, die er für sich entdeckte in einer Mischung aus bewusster Entscheidung und, meines Erachtens der viel stärkeren Kraft, der aus dem Un(ter)bewusstsein aufsteigenden Interessen. Dieses Detail macht der Künstler dann zu einem Mittelpunkt der Diskussion in der Außenwelt. Der Künstler sucht nach Ästhetik, nach dem stilvoll Schönen. Vor allem aber sucht er nach dem Prozess aus einem nicht stilvoll schönen Detail der Außenwelt ein solches zu machen. Dieser Prozess ist seine Lebensaufgabe im Sinne von Camus´ glücklichem Sisyphos. Deswegen verweilt er gerne am umbrechenden Meer. Das Meer erscheint ihm ähnlicher in seiner inneren Fließgeschwindigkeit als viele andere Menschen. Die Verbundenheit ist wirklich außergewöhnlich.

Er sucht das Detail dort, wo er ist. Und wenn er es vor Ort nicht findet, dann macht er aus dem, was er hat, etwas stilvoll Schönes. Hierfür hat er die Kraft. Es ist eine ungeheure Kraft. Sie muss Widerstände brechen. Denn jeder Anfang ist schwer. Wenn der Künstler mit seiner Arbeit beginnt, wird das Detail in der Außenwelt, für welches er den Auftrag erhalten hat, sich darum zu kümmern, nicht beachtet. Es liegt meist im Dickicht, unter schwerem Gestrüpp, im Schlamm. Der Künstler sieht aber im Dickicht etwas schimmern und stellt sich in seinem phantastischen Hochmut vor, wie stilvoll schön, wie erhaben ästhetisch dieses Detail leuchten könnte. Dann springt er rein, ins Meer des Prozesses.

Manchmal wird er rein geschupst. Das Meer erfrischt ihn im Sommer, es lässt ihn fast erfrieren im Winter.

Künstler werden, jedenfalls nach heutigem Modell des Zusammenlebens menschlicher Gemeinschaften in der westlichen Welt, solange angezweifelt, hinterfragt und man muss es so sagen, ausgegrenzt, bis sie bewiesen haben, dass sie aus dem Nichts stilvolle Schönheit etablieren können, die viele andere nun auch als stilvolle Schönheit erkennen können. Das ist der Mehrwert, den der Künstler für die Gemeinschaft liefert. Sein Produkt. Wenn es von der Gemeinschaft rezipiert wird, dann erhält er meist einen deutlich herausgehobenen Status. Wir pflegen einen übersteigerten Umgang mit unseren Künstlern.

Bis zu diesem Punkt hat der Künstler ein schweres Leben. Er kämpft innerlich mit sich in der Welt. Er bekommt nicht die Anerkennung, die er verdient hat. Er wird manchmal negativ, manchmal gar rachsüchtig. Vielleicht ist es diese Phase, die ihm die Kraft gibt, die stilvolle Schönheit freizulegen. Dass er die Kraft in sich hat, ist unbestritten, aber vielleicht bedarf es dieser „Ladephase“, um die Energie zu konzentrieren, um den Starkstromstoß punktgenau auszulösen.

Zur Veranschaulichung könnte angenommen werden, dass menschliche Individuen in ein großes elektromagnetisches Netzwerk mit der gesamten Umwelt eingebunden sind und dass die Künstler dazu da sind, diesem Netzwerk wichtige Starkstromstöße zu geben, damit das Netzwerk die richtige Spannung hält, damit der Energiehaushalt ausgeglichen bleibt, sich in die richtige Richtung bewegt. Nur Künstler können Stromstöße in dieser Intensität aussenden. Der Preis, den sie zu zahlen bereit sein müssen, ist das Herausfallen aus dem Muster.

Zur Wahrheit gehört, dass manche Künstler in der Ladephase stecken bleiben und es nicht schaffen, die von ihnen gesehene stilvolle Schönheit eines Details der Außenwelt den anderen so zu präsentieren, dass viele darin Schönheit erkennen. Zur Wahrheit gehört auch, dass viele Menschen den Künstler in sich nicht zulassen und ihr ganzes Leben weitgehend damit verbringen, ihn zu unterdrücken. Das führt dazu, dass die Mitmenschen diesen Menschen argwöhnisch betrachten, denn sie spüren, dass er Seiten in sich hat, die er nicht zeigt.

Wer die Früchte eines offenen, ehrlichen Austausches mit anderen Menschen ernten möchte, namentlich tiefgreifende Vertrauensbeziehungen, der muss alles, was er in sich hat, offen zur Diskussion stellen. Es ist an seinem Gegenüber ihn in seiner Fülle zu akzeptieren und sich ebenfalls zu offenbaren. Auf welcher Basis soll sich andernfalls Vertrauen bilden.

Vertrauen heißt, mit einem bestimmten Verhalten des anderen rechnen können. Wie soll sich tiefgreifendes Vertrauen bilden, wenn Informationen zurückgehalten werden. Vor allem wenn Informationen zurückgehalten werden, die großen Einfluss auf das eigene Verhalten haben, also die schwachen und schlechten Seiten in den Menschen. So oft leisten sie guten Absichten Widerstand, dominieren das Verhalten, beispielsweise über Scham und Angst. Wer diese Seiten in sich nicht offenbart, der wird seine guten Absichten nicht in voller Blüte kommunizieren können. Er wird zwischenmenschliche Beziehungen mehr belasten als befruchten. Durch das Leugnen und Verschweigen der eignen schwachen und schlechten Seiten, sendet er negative Energie in das elektromagnetische Netzwerk. Diese negative Energie fließt so oder so irgendwann zu ihm zurück. Wer ehrlich zu sich ist, der leidet ganz bitter unter diesen Rückflüssen negativer Energie.

Auch Künstler haben bitterste Selbstzweifel (fehlende Anerkennung). Diese negativen Energieflüsse sind letztlich das Leiden des Menschen. Sie können von überall herkommen. Von Menschen, die den Einzelnen umgeben, von anderen Existenzen wie Tieren. Jeder kann negative Energie erzeugen und andere damit hart treffen. Nochmal, es passiert häufig unbewusst, sogar mit guten Absichten. Dieses Aussenden negativer Energie ist vergleichbar mit physischer Gewalt, es ist eine Art psychische Gewaltausübung. Das deutsche Strafrecht unternimmt die ersten langsamen Versuche, sie zu erfassen, beispielsweise über den Stalking-Paragraphen (§ 238 StGB) oder klassisch über die Beleidigung (§ 185 StGB).

Eine Frage ist, warum empfindet der Mensch überhaupt negative Energie? Warum kann der Mensch zwischen positiver und negativer Energie unterscheiden? Warum leidet er? Was steckt dahinter? Vielleicht sendet das Universum dem einzelnen Menschen damit das Signal, dass irgendetwas im elektromagnetischen Energienetzwerk nicht im Gleichgewicht, also zu reparieren ist.

Der Buddhismus indoktriniert monoton: Leben ist Leiden. Wilhelm fragt: Warum leidet der Mensch? Buddha antwortet: Warum willst du das wissen? Wilhelm spricht: Mich juckt es nun mal. Ich glaube, da klemmt was.  

Interessant ist dabei, dass nicht jeder negative Energiestrom gleich hart trifft und verletzt. Jeder war schon mal verliebt und wurde enttäuscht. Das trifft. Vor allem, wenn es unvorhergesehen kommt. Es könnte daher besser sein, jeden Menschen als potenziell positive und negative Energiequelle zu betrachten. Man interagiert mit dieser Quelle und schaut, ob sich ein langfristig tragfähiger positiver Energieaustausch einstellt. Es wird immer auch negative Rückflüsse geben, keiner ist perfekt, vor allem im Anpassungsprozess, aber die Bilanz sollte doch deutlich positiv sein.

Und die Menschen sind verschieden, nicht jeder passt zu jedem, also sucht man sein Leben lang nach positivem Energiefluss. Alles andere wird, soweit es möglich und innerlich vertretbar ist, abgeschnitten wie die schlechten Triebe eines Apfelbaumes. So schneidert sich jeder Mensch seine eigene Infrastruktur. Aber auch hier gilt, jeder Anfang ist hart. Vor allem für die Menschen, deren Persönlichkeit eine dominante Eigenschaft bei dem Faktor Agreeableness (Rücksichtnahme, Empathie, Verträglichkeit mit anderen, Kooperationsbereitschaft) haben.

Diese Personen gehen in zwischenmenschlichen Beziehungen auf, sie erklären sich ihre gesamte Welt über zwischenmenschliche Beziehungen. Ihnen ist fast egal, ob sie im Palast oder in der Hütte wohnen, solange die zwischenmenschlichen Beziehungen um sie herum gut organisiert sind und konstanten positiven Energiefluss gewährleisten. Diese Personen senden sehr viel positive Energie in den Kreislauf. Deswegen wollen viele Personen mit diesen Personen Zeit verbringen, um an den positiven Energieschüssen zu partizipieren. Wer will es ihnen verdenken. Idealerweise entsteht ein positives Energienetzwerk. Doch dann erhält ein Mensch mit dominantem Faktor Agreeableness einen negativen Energiefluss. Für ihn ist innerlich die Hölle los. Er hinterfragt alle Energiestöße, die er jemals ausgesendet hat, ob er es war, der diesen negativen Energiefluss auslöste. Das gehört zur Wahrheit der Menschen mit Faktor Agreeableness, vor allem, wenn sie wie häufig auch noch eine Dominanz im Faktor Introvertiertheit haben. Dann haben sie diese langen Phasen der Selbstzweifel, in denen sie in sich sind und dem negativen Energiefluss nachspüren. Wenn sie intelligent, schnell und gewissenhaft sind, schaffen sie es, alle Möglichkeiten in sich zu prüfen und kommen an den Punkt, an dem sie wissen, nicht glauben, nicht fühlen, sondern an den Punkt, an dem sie wissen. Sie wissen, weil sie in sich überall waren, vom Abgrund der Seele bis in den Himmel des Hochmuts, sie waren überall und haben alles ausgehalten, sie haben nicht nur stilvoll Schönes gefunden, sondern auch abgründige Steilwände und hässliche Steppen, aber sie kennen jetzt das Land, über das sie herrschen und wissen, dass nicht sie Quelle der negativen Energieflüsse waren. Mit diesem Wissen ist es ihnen nicht mehr möglich, ihr altes Leben zu leben. Das ins Bewusstsein gerufen Land hat so viele schöne Plätze, man will an allen gleichzeitig verweilen.

Und da diese Menschen einen dominanten Faktor Agreeableness haben, wollen sie anderen von ihren Erkenntnissen erzählen. Doch die Anderen hören nicht zu. Es ist interessiert sie nicht, was ist das für ein komisches Land, lass mich mal in Ruhe, sagen sie. Das große Schweigen. Und dann sind diese Menschen enttäuscht, weil sie den ganzen positiven Energiefluss, den sie in sich tragen und teilen möchten, nicht teilen können. Sie suchen dann Wege, um ihn möglichst effektiv zu teilen.

Wenn dann ein weiterer dominanter Persönlichkeitsfaktor hinzutritt, der als Openness for ideas (Aufgeschlossenheit, Offenheit für Erfahrungen) bezeichnet wird, dann durchlaufen diese Personen sämtliche Möglichkeiten, wie sie ihre Erfahrungen mitteilen können und finden eine dominante Formensprache, wie sie sich am besten ausdrücken können. Beim Praktizieren der Formensprache, also beim Beschreiben ihrer Innenwelt über Erzeugnisse der Außenwelt, erhalten sie einen derart hohen positiven Energierückfluss, wie sie ihn vorher noch nie erlebt haben. Dopamin-Kick.

Sie können sich nicht vorstellen, dass es eine Möglichkeit gibt, positive Energie in noch höherer Dosis zu produzieren und in die Welt zu geben. Das ist der Punkt, an dem sie aufhören zu suchen und anfangen zu schaffen. Sie haben eine Verbindung zwischen ihrer Innenwelt und der Außenwelt gefunden und wollen nur noch in diesem Fluss schwimmen, auf einer Welle nach der anderen surfen.

Aber keiner kann tagelang schwimmen oder surfen. Sie müssen sich von Zeit zu Zeit erholen, eine gefestigte Realität in der Außenwelt entwickeln. Sie sollten ein Gleichgewicht finden, um eine gesunde Lebensform in beiden Welten zu etablieren. Vielleicht beschrieb Virginia Woolf dieses Gleichgewicht, als sie schrieb: „I am rooted, but I flow“. Sie sollten es deswegen finden, um dieses Spiel langfristig spielen zu können und sich nicht zu lange in einer Welt aufzuhalten, denn dann verlieren sie sich in der anderen Welt. Das ist vielen früh passiert, von Curt Cobain über Amy Winehouse bis zuletzt Avicii. Gerade wer jung und früh die Verbindung findet, sollte vorsichtig sein, denn seine Realität in der Außenwelt ist nicht allzu gefestigt und von Umbrüchen geprägt. Er hat parallel den positiven Energiefluss in der Innenwelt und die vielen komischen negativen Signale und Probleme mit der Außenwelt. Er zieht sich dann zunehmend in seine Innenwelt zurück und verliert im schlimmsten Fall die Verbindung zur Außenwelt. Wer das bei sich oder anderen Menschen beobachtet, der sollte vorerst seine Energie darauf konzentrieren, die Existenz in der Außenwelt zu stabilisieren. Aber nicht mit der Brechstange, sondern mit bedingungslosem, ausschließlich positivem Energiefluss.

Doch wer gibt einem jungen Menschen diesen bedingungslosen positiven Energiefluss? Gut, es ist offensichtlich wer hier eine Quelle sein kann. Natürlich die Familie. Bei jungen Männern primär die Mutter, bei jungen Frauen primär der Vater. Es ist noch nicht ganz klar, warum es primär das entgegengesetzte Geschlecht ist, aber, um in der Metapher des Energienetzwerkes zu bleiben, es könnte etwas mit der Spannung (Plus-Pol und Minus-Pol) zu tun haben. Oder ganz profan, auf Freud rekurrierend, mit dem Sexualtrieb. Auf jeden Fall kann die Akzeptanz und Anerkennung der Innenwelt durch die Familie ein Rettungsanker sein. Hinzutreten Akzeptanz und Anerkennung durch Liebespartner, Freundeskreise, etc.

Wenn aber die Familie, aus welchem Grund auch immer, die erhoffte Akzeptanz und Anerkennung nicht liefern kann, sucht der Mensch weiter in der Außenwelt nach dem gleichen Niveau an positiver Energie wie er sie in der Innenwelt empfindet. Unbewusst will er im Grunde ein Gleichgewicht herstellen zwischen den positiven Energieflüssen in seiner Innen- und der Außenwelt. Wer sich die Dokumentation über Avicii anschaut, der wird diese Suche immer wieder wahrnehmen. Beispielsweise macht er obsessiv Musik, dabei ist er stunden-, tagelang ganz überwiegend in seiner Innenwelt, dort dirigiert er Orchester und beherrscht die Welt der Musik im positiven Sinne durch die beschriebenen Kraft. Das sieht man auch unter anderem daran, dass er kaum isst. Das hat wahrscheinlich zwar auch mit seiner Baucherkrankung zu tun, aber zum Großteil damit, dass sein Hungergefühl nicht dominant genug ist. Sein Körper in der Außenwelt ist ein Vehikel, um den er sich kaum kümmert, er vergisst ihn, unterdrückt das Hungergefühl, seine Innenwelt ist dominant und gibt die Handlungen vor. Manchmal kommt er zurück in die Außenwelt und verspürt den Drang, auch seine Existenz oder Realität in der Außenwelt so positiv zu gestalten wie seine Innenwelt. Dann liest er Carl Jung, versucht sich zu verorten, aber diese zarten Pflänzchen reichen nicht für eine gesunde ausgeglichene Existenz in der Außenwelt.

Stattdessen trägt er die Schätze seiner Innenwelt, die er beherrscht wie ein Meister, in die Außenwelt und erhält dafür bedingungslosen ausschließlich positiven Energiefluss. Bei Avicii herrschte dieser bedingungslose positive Energiefluss vor allem bei seinen Auftritten vor, er hat hunderte davon in wenigen Jahren absolviert. Er war ständig auf der Reise, in der Welt zu Hause. Sein Management hat das alles angeheizt und zugeschaut. Man könnte über Mittäterschaft nachdenken.

Die Auftritte und das ganze Medientheater, das eine Außenwelt ohne negative Energie suggeriert, erzeugen eine Art Blase positiver Energie. Natürlich fühlt es sich erstmal gut an, hier zu leben, nur positive Energie. Doch das Problem ist, dass diese Blase nicht die gesamte Außenwelt abbildet, es ist eine bewusst erzeugte Scheinwelt. Der Einzelne wird darin naiv und verwechselt Außenwelt und Blase. Die Blase kann platzen. Sie ist vergleichbar mit Pleasure Island in Pinocchio. Aus den Menschen, die sich nur in der Blase aufhalten, können Esel werden. Wer möchte, kann sich einige berühmte Vertreter in der heutigen Medienwelt vorstellen. Und wenn die Blase platzt, kommt diesem Menschen sofort ein kompletter Schwall negativer Energie entgegen. Und der tut weh, er geht durch Mark und Bein.

Meist passiert das, wenn die Blase ohnehin in Turbulenzen geraten ist und eine Auseinandersetzung mit der „wirklichen“ Außenwelt unumgänglich ist. Bei Avicci war das seine Erkrankung. Hier leistet die Dokumentation wichtige Aufklärungsarbeit. Avicci selbst wollte zunächst schnell wieder zu den Auftritten und sich weitere goldene Schüsse der süßen Aufmerksamkeit holen. Er ist abhängig von den Glückshormon-Kicks. Als er merkt, dass jenes Spiel langfristig so nicht gespielt werden kann, da es seinen Körper schädigt, will er Ruhe, nimmt sich eine Auszeit. Sein Management argumentiert dagegen. Es zeigt sein wahres Gesicht, offenbart das System.  Es hat abgewogen zwischen Profit und Mensch. Es argumentiert für den Profit und damit gegen den Menschen, gegen dessen nachhaltige Existenz in der Außenwelt. Das ist natürlich unfassbar und unverantwortlich. Es ist auch unintelligent, vor allem für das gesamte weltweite Energienetzwerk. Denn nicht nur, dass ein Mensch sich quasi vor den Augen der Welt selbst opferte, so viel Verantwortung muss auch er übernehmen, sondern Avicci, der Milliarden von Menschen weltweit in den Bann zog, der durch seine Musik, welche die ganze Welt unter einer Vision vereinte, vielleicht die Zukunft vorhersah, diese menschliche Kraftquelle ist einfach nicht mehr da und das treibt einem die Tränen in die Augen. Es lässt einen hilflos zurück. Wie kann es uns unberührt lassen. Er produziert keine Starkstromstöße mehr, dieses Genie, er surfte Wellen wie kaum ein anderer. Dies ist mein Nachruf, mehr habe ich nicht, ich höre dich, mein Lieber, deine Werke zieren meine Listen, wake me up, levels, lonely together, hey brother, you make me, addicted to you, so much better and jeden Tag Sunset Jesus. Fühl dich gedrückt. Wo immer du auch bist.

Wir sollten in unseren Gemeinschaften Strukturen für unsere Künstler vorsehen, die ihnen geben, was sie brauchen, um die Starkstromstöße langfristig zu ihrem Vorteil und zum Vorteil aller zu produzieren. Damit sie ein menschenwürdiges Leben haben und die Gemeinschaft durch ihre speziellen Kräfte bereichern können. Derzeit lassen wir zu, dass sich Blasen bilden, manche schießen wir in den Himmel und manche verrecken im Abgrund, und wenn die Blasen platzen, rennen alle weg und die Künstler verenden in der Klapsmühle! Aber die positiven Starkstromstöße nehmen wir gerne. Rennen auf Konzerte wie die wilden Horden, jeder will ein Foto in der Stadt, bis die Energie mal negativ wird und der Künstler nicht mehr kann. Dann nehmen wir den nächsten aus dem Regal. Kaum zu ertragen, ekelhaft, unintelligent, wäre es nicht so schmerzhaft, wäre es lächerlich.

Lilian: „Wilhelm, willst du Künstler werden?

Wilhelm: „Künstler wird man nicht, Künstler ist man.

Lilian: „Was willst du dann einmal werden?

Wilhelm: „Ich will ein Don werden. Und ein Consigliere.

Lilian lachend: „Alles auf einmal? Ich kenne nur Don Quijote. Und Consigliere? Nennen sich nicht den Anwalt in dem Film der Pate so?

Wilhelm lachend: „Nein, nein, nein. Ich merke, ich muss dir meine Pläne skizzieren. Die zukünftigen Berufe sind andere als heute. Ich erzähle dir eine Geschichte, danach wirst du wissen, was ich einmal werden will.“

Lilian: „Das klingt spannend.

Wilhelm Wallace – Don und Consigliere

Damals wollten alle vier Kinder Consigliere werden. Damals, nach Jahrzehnten der Aufbauarbeit, als die Familie Steward endlich das erträumte Palais bezogen hatte. Der Einzug war wie die Ankunft im Heimathafen nach langer Schiffsreise, wie das Auftauchen nach dem Ausharren im Bauch des Walfisches. Die Kinder erlebten ihn spielerisch. Sie liefen durch die Räume als wären es fremde Länder, erkundeten einen nach dem anderen. Für die Eltern waren die vielen Freiräume ungewohnt, sie wollten mit den Kindern laufen, waren aber nach der kräftezehrenden Reise unsicher, ob die so reich verzierten Stuckdecken, die sie sich mit Consigliere vor vielen Jahren erträumt hatten, wirklich wahr geworden sind, ob das Jahrhunderte alte Eichenholzparkett wirklich ein langfristig trittfester Boden sein kann.

Sie konnten es nicht glauben, noch nicht.

Professor, so nannten die Kinder Wilhelm. Anfänglich. Auch ihre Mutter, Mary, nannte ihn so. Bis John Steward ihn respektvoll Consigliere nannte. Ab diesem Zeitpunkt war Wilhelm Wallace für alle Stewards der Consigliere. John war pedantisch. Als Henry, der älteste Sohn von John und Mary, anfing, Wilhelm Professor zu nennen, führte sich John den lateinischen Wortstamm der Bezeichnung Professor innerlich vor Augen. Profiteri, profiteor, professus sum. Gut, mein Sohn, dachte John, Wilhelm hat sich öffentlich bekannt, das könnte passen. Aber je öfter die Bezeichnung Professor im Zusammenhang mit Wilhelm in Johns Ohren drang, je intensiver vernahm er ein Störgeräusch. Es fehlte etwas. Etwas, das Wilhelm in seiner speziellen Rolle zu Johns Familie spiegelte. Es fehlte die tiefe persönliche Zuneigung, der Aspekt des gegenseitigen Vertrauens, der Umstand, gemeinsam einen Weg beschritten zu haben.

John wollte nicht von einem gewöhnlichen Professor beraten werden. Früher war die Bezeichnung Professor ein Gütesiegel herausragender Bildungsqualität, heute, nach Jahren gesenkter Bildungsansprüche kann sich jeder Professor schimpfen. Deswegen muss man heute tiefer greifen, dachte John während seiner allmorgendlichen Reflektionsphase. 

- humoristischer Einschub -

Viele Professoren erweitern deswegen heutzutage die Beschreibung ihres Titels und stellen sich als volle Universitätsprofessoren vor. Manche wollen sich weiter abgrenzen und fügen den vollständigen Namen der Universität hinzu, wieder andere Gründungsjahr und Wahlspruch. Die ganz Versierten rattern bereits bei der Begrüßung die gesamte Universitätsgeschichte im souverän-konfrontativen Vorlesungsstil herunter und rezitieren ausgiebig aus ihrer Publikationsliste. Wo der Mitteilungsdrang herkommt? Daran forscht man noch.

Was aber empirisch belegt werden kann, ist, dass es, wen auch immer sie auf diese Weise begrüßen, zwei Reaktionsmuster zu beobachten gibt. Die einen laufen schreiend weg, laufen so schnell sie können, am besten direkt an die Bar zum Alkohol. Das ist die Gruppe der ausgeglichen-vernünftigen Studenten. Die andere Gruppe dagegen lässt sich von der monotonen Selbstherrlichkeit nicht abschrecken. Sie hält dagegen. Denn auch sie hat nach eigenem Befinden Einiges zu sagen. Manche ihrer Mitglieder sind tatsächlich Professoren, andere parlieren (noch) mehr gewollt als gekonnt. Sofort nehmen sie die Verfolgung auf und haken bei der nächsten Sprachpause des nach Luft schnappenden Professors ein, um ihre Geschichte zum Besten zu geben. Interessant und nun zu erforschen ist, dass die Professoren untereinander zwar so taten, als ob sie sich für die langweiligen Geschichten des anderen interessierten, es aber gar nicht taten und dabei dachten, dass die anderen es nicht merkten. Dabei merkten die, die kurz nachdachten, sofort, dass sie nicht tun sollten, was sie taten, da sie sich noch nicht einmal selbst dafür interessierten. Das merkten auch alle anderen. Vor allem die Studenten. Denen war ihr Austausch untereinander wertvoller und so schrieben sie die wahre Geschichte ihrer Universität auf der Wiese weiter, ohne die Professoren, die die Zukunft nicht nahen sahen, die nicht einmal merkten, was sie taten.

So kommt es heute nicht selten zu folgender amüsanter Szenerie. Professoren treffen aufeinander um gemeinsam ihrem Hobby, der Kongressveranstaltung, nachzugehen. Hier macht der Professor das, was er immer macht. Er stellt sich vor. In der Regel ist die Redezeit dann um. Kongresse sind in Mode gekommen, weil sie die einzigartige Besonderheit aufweisen, dass dabei nichts, aber auch rein gar nichts, nicht einmal langfristig irgendetwas herauskommen muss, gleichzeitig aber jeder forsche Forscher mit Schaum um sich schlagen kann. Die alten Griechen würden nach heutiger Kenntnis aller Voraussicht nach derzeitige Kongresse als Schaumpartys bezeichnen, bei denen die Professoren morgens abgegeben und abends abgeholt werden. Falls ein zerstreuter Professor auf einer Konferenz gedanklich verloren geht, was durchaus als gängiges Kongress-Muster zu beobachten ist, ruft ihn die Kongressleitung durch immer lauter werdendes Gähnen aus und bittet ihn zum Ausgang. Auf diese Weise wird der Zeitplan halbwegs eingehalten und alle Teilnehmer sind bei Anbruch der Dunkelheit wieder zu Hause. „Wie war es, mein Kleiner?“ „Puh, anstrengend!“ Es sei denn, es handelt sich um eine mehrtätige Konferenz. Hier hören die forschesten Forscher auch nachts nicht auf zu forschen. Deswegen ist der Professor eher selten auf Familien- und Geburtstagsfeiern anzutreffen, denn hier kennt man seine Gattung. Noch bevor er sich vorzustellen vermag, wird er ausgerufen und zum Ausgang gebeten.

Mit einer weiteren Begebenheit lässt sich hervorragend die Eignung des Professors für das praktische Leben verdeutlichen. Sie ist wahr, ich habe sie selbst miterlebt. Angesagt war eine Grillfeier im Garten eines Professors. Jeder war aufgefordert etwas mitzubringen, Professor A sollte einen Salat beisteuern. Er brachte einen Kopfsalat und legte ihn auf den Tisch zu den anderen Salaten. Der Kopfsalat war noch verpackt.

Nach wenigen Augenblicken erweckte der verpackte Kopfsalat die Aufmerksamkeit des jüngsten Lehrstuhlmitarbeiters: „Welcher Idiot hat denn hier einen verpackten Kopfsalat mitgebracht? Ich fass es nicht!“ Keiner meldete sich. Nur Professor A lief rot an. Es war keine gewöhnliche Gesichtsrötung, sein Gesicht war knallrot. Wäre dunkle Nacht auf hoher See gewesen, das Gesicht von Professor A wäre die Leuchtboje. Plötzlich wurde allen klar, es ist mal wieder an der Zeit, dass die Studenten die Professoren unterrichten, sie aufwecken, und sie in ihre Welt, das wirkliche Leben, zurückholen!

Im Nachgang jeder Konferenz erhält der Professor einen großen dicken Umschlag mit seinem Namen. Als erstes kontrolliert er das Adressfeld. Sind seine Titel unvollständig oder in ungebührender Reihenfolge kombiniert, wird der Absender kuragiert kontaktiert, mit der „Wahrheit“ konfrontiert. Ein Professor ist der Wahrheit verpflichtet und so macht er den Absender zur Sau. Natürlich mit der gebotenen Zurückhaltung, aber dennoch mit Nachdruck, denn zur Wahrheit gehört die Reihenfolge seiner Titel. Also wird der Umschlag zurück gesendet, damit der Absender die Möglichkeit hat, seine Unwahrheit zu widerrufen. An diesem Punkt ist der Professor großzügig, nicht kleinkariert, jeder soll die Möglichkeit haben, sich seine Fehler einzugestehen und zu widerrufen.

Wenn der Umschlag dann mit dem einzig „wahren“ Adressfeld den großen, aber ständig überfüllten Schreibtisch des Professors erreicht, nimmt dieser mit professoraler Ruhe den Brieföffner und öffnet ihn.

Er findet darin den Tagungsband der letzten Konferenz, zuweilen auch Festschrift, Gedenkschrift oder, je nach ausgelebtem Lateinfetischismus des Schirmherren, Commemorative genannt. Das dicke Buch wird in der Regel in hoher Auflage mit schönem Einband gedruckt, damit die wichtigen Worte zum einen in den Regalen der Universitätsbibliotheken der Welt gut aussehend verstauben können und zum anderen sozusagen durch den Wald direkt in die Papierpresse wandern. Findige progressive Professoren sind sich schon lange einig, man könnte im Zweifel ausnahmsweise ab und zu auch mal auf den Tagungsband verzichten, denn wirklich gelesen wird er weder von den Interessierten noch den Nichtinteressierten. Die Interessierten waren auf der Tagung anwesend und das Letzte, was sie tun würden, wäre, sich den langweiligen Quatsch, der auf der Tagung erzählt wurde, nochmal in schriftlicher Form zu Gemüte zu führen.

Sobald der Tagungsband ausgepackt war, wurde ein Platz hierfür gesucht. Der Professor versinkt im Selbstgespräch: „Schön sieht er ja aus, der Einband des Tagungsbandes. Hach, diese Rhetorikpatzer, gravierend, habe ich wirklich in einem Halbsatz zwei Mal das Wort Band verwendet. Meine Rhetorik war früher deutlich ausgereifter. Ich werde alt. Obwohl, ich sollte nicht zu streng mit mir sein, Milde, werter Herr Professor, Milde ist das Gebot der Stunde. Ich wollte doch nur die äußere Erscheinung des Tagungsbandes, also des Einbandes, huldigen, eine grundsätzlich positive Eingebung. Was kann ich entgegensetzen, wenn die einfallslosen Schirmherren der Konferenz den Konferenzbericht, in dem meine wertvollen Gedanken im Übrigen deutlich zu knapp enthalten sind, als Tagungsband bezeichnen und nicht, wie heute aus gutem Grund üblich, als Gedenkschrift, Festschrift oder Commemorative. Das ist der eigentliche Skandal. Die Bezeichnung als Tagungsband. Skandal. Tatsächlich, es handelt sich um einen Skandal. Der Skandal muss aufgeklärt werden. Ich werde einen Brief verfassen. Noch heute. Wo waren wir stehen geblieben? Ach ja, wir suchten einen Platz für den Tagungsband, also die Gedenkschrift. Wir? Wieso wir? Ich! Schön sieht er ja aus, der Einband der Gedenkschrift. Auf dem Schreibtisch ist nun wirklich kein Platz. Und wie voll die Regale sind. Ich benötige mehr Regale. Deutlich mehr. Ich verfasse einen Brief an die Universitätsleitung. Noch heute. Unter der Knute dieser Budgetkürzungen kann kein Professor ernsthaft seiner Forschung nachgehen. Es ist schier unmöglich. Ich habe noch nicht einmal Platz für die Gedenkschrift, in der ich ganz nebenbei erwähnt mit einem ganz hervorragenden Beitrag vertreten bin. Nun gut, vorerst platziere ich die Gedenkschrift im Regal ganz hinten, unterster Regalboden, hintere Buchreihe. Hier steht sie gut. Ich lese sie am Wochenende oder in den kommenden Osterferien, zumindest zum Nachschlagen weiß ich sie bei mir.

- Ende des humoristischen Einschubes -

Am Bedeutungsverlust der Bezeichnung Professor zeichnete sich für John der Bedeutungsverlust der Institution Universität ab. Ihren lateinischen Wortstamm, universitas magistrorum et scolarium, hatte die Universität in Johns Augen schon lange vergessen. Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden. Übrig geblieben war eine Institution, die vor allem ihre Professoren aus welchem Grund auch immer mit Verwaltungsarbeit zuschüttete, denen vielleicht gerade deswegen keine Zeit mehr blieb, ihre eigenen Ansichten herauszubilden, ständig zu hinterfragen, und den Prozess des ständigen Zweifelns, des ständigen (Neu)Artikulierens, des Scheiterns, an die ihnen beim Zweifeln, Artikulieren, Scheitern zusehenden Lernenden als Lebensaufgabe weiterzugeben.

Für diese Aufgabe ist nicht jeder geboren, auch wenn es so viele in Johns Gemeinschaft noch so laut schreien sollten. Das spürte John unverkennbar und ohne jedes Störgeräusch, wenn er sich, auf einer der Holzbänke vor der eindrucksvollen Frankfurter Oper sitzend, deren Inschrift als eigenes Lebensmotto vor Augen führte: Dem Wahren, Schönen, Guten!

Nicht jeder ist für diese Aufgabe geboren!

Das Zuschütten mit Verwaltungsarbeit führte dazu, dass die fähigsten Köpfe nicht mehr Professoren werden wollten, und die, die es waren, es zumindest irgendwann verbittert bereuten, es geworden zu sein.

Während offline die Hochschulen fast inflationär aus dem Boden sprießten, schien online das alte Verständnis der Universität neu entdeckt zu werden.

 „Vielleicht wächst aus all dem Schlamm eine wahre, schöne und gute Lotusblume, wer weiß“, dachte John. Sein Bild von einem Professor war ein Don, der als exzentrisch-genialer Mentor der Lernenden den Zeitgeist unter der Lupe der Geschichte betrachtet und, wenn erforderlich, Impulse gibt. Wenn er Impulse gibt, ganz gleich in welcher Form, sind alle elektrisiert. Diese Intensität machte ihn zum Don. Er vernahm die großen weichen Linien, in denen der Zeitgeist über Jahrhunderte fließt und wenn der jeweilige Zeitgeist sich zu weit von diesem Fluss entfernte, wodurch das ästhetische Empfinden des Don gestört wurde, setzte er sanftmütig Impulse, damit der Zeitgeist sich anpasst. Aber auch nur dann.

Seine Ideen wollte John mit einem Don entwickeln, dessen Lebensaufgabe es war, seine Ideen mit ihm zu spiegeln. So wie er seine Lebensaufgabe darin sah, den in Vergessenheit geratenen Ethos seiner Vorfahren zu neuer Blüte zu führen.

Diese Persönlichkeit muss mit allen Wassern gewaschen sein“, dachte John, „sonst bereitet sie mich nicht auf alle Gefahren vor. Sie muss in der Lage sein, zu widersprechen, mich herauszufordern, sie muss mich an den letzten Rand des Wahnsinns treiben können, ohne dabei die Kontrolle zu verlieren. Sonst kann ich nicht alles aus mir herausholen. Das muss ich hingegen schon deswegen, um nicht vor meinen eigenen Ansprüchen im Spiegel zu scheitern, sondern mit aufrechtem Rückgrat voranzuschreiten.

Was auch immer auf mich wartet. Die zwischenmenschliche Dynamik muss stimmen. Ich weiß sowas meist nach wenigen Minuten. So war es auch bei Wilhelm. Ich wusste es. Dass ich ihn nicht sofort in die Familiengeschichte eingeweiht habe, lag nur an meiner gesunden Vorsicht. Die Dynamik ist das Gaspedal und die Vorsicht ist die Bremse. Beides hat elementare Funktionen. Es gibt das Phänomen, dass die Dynamik anfangs stimmt, sich dann aber nach einer gewissen Zeit doch unauflösbare Widerstandskräfte zeigen.

Ich habe das oft gehabt, wenn ich anderen Personen die Seite an mir gezeigt habe, die frei assoziiert. Manche nennen es Tagträumen, andere nennen es kreatives Gedankenchaos wieder andere unnützes Selbstgeschwätz. Doch für mich ist es wertvoll. Ich fand hier alle meine bisherigen Schätze, musste sie nur von einigem tatsächlich unnützen Zeug befreien und in meine eigene Geschichte integrieren. In diesen Tagträumen finde und lese ich meine Zukunft. Menschen scheinen über das freie Assoziieren unterschiedliche Meinungen zu haben. Worüber ich mir noch nicht im Klaren bin, ist der Umstand, ob die Menschen, die es als unnützes Selbstgeschwätz abtun, sich nicht trauen, es zu erkunden oder tatsächlich nicht die Fähigkeit haben, auf dieser abstrakten Ebene Signale zu empfangen und zu verarbeiten. Mir ist nicht klar, bei welchem Schritt sie stecken bleiben. Denn das freie Assoziieren ist für mich derart elementar, dass es mich danach dürstet, wenn ich mich meinen Gedanken auf dieser in alle Richtungen chaotisch sprudelnden Ebene einige Zeit nicht gestellt habe. Für mich macht das den Unterschied. Ich verorte mich über diese Ebene, sichere meine Entscheidungen und Handlungen seit Langem über diese Ebene des freien Selbstgespräches ab. Man könnte den Gesprächspartner auf dieser Ebene mein vertrauenswürdiges Selbst nennen. Es war schon immer da, im Selbstgespräch, aber nicht in diesem bewussten Reichtum. Die Fülle des nahrhaften Stromes, besser gesagt, immer breitere Ströme des schier unendlichen Quellstroms nahm ich erst wahr, als ich merkte, dass ich mich bewusst mit ihm auseinandersetzen kann und verwertbare Denkanstöße erhalte. Um ehrlich zu sein, finde ich dort mein Gold. Auch wenn ich vorher in mir mit dem Drachen kämpfen muss und mir Problemlösungen über das Erleiden von Selbstzweifeln erkaufe.

Aber diese Ebene ist zu meiner Schatzkarte geworden und zwar an dem Tag, an dem die Schatzkarte, die mir vorgegeben wurde, mich nicht mehr zu meinen Schätzen führte, sondern in die nihilistische Dunkelheit. An diesem Tag verlor ich die Orientierung und schwamm im Ozean der Werte, jenseits von Gut und Böse. Ich schwamm und schwamm, schwamm so schnell ich konnte. Ich sah mich schon erschöpft auf dem kalten dunklen Ozeangrund liegen, ertrunken. Doch ich war fern vom Ertrinken, jedenfalls aus heutiger Sicht. Heute steuere ich ein sicheres Segelboot, als Kapitän. Heute weiß ich, dass unter der alten Schatzkarte, die beispielsweise den dunklen Ozeangrund mit vielen Worten als einen Ort beschrieb, an dem kein Mensch gesund überleben kann, mindestens noch eine weitere, ältere, die wesentlichsten Strukturen in abstrakten Bildern fassende Schatzkarte von mir entdeckt werden wollte, um mich im Ozean der Werte zu leiten, um durch die neu gewonnene Sicherheit in mir neue Energie zu mobilisieren, um mich mit dieser Energie unter Wasser atmend aus der nihilistischen Dunkelheit des Ozeans auf meine eigene Insel zu retten. Auf dieser Insel wohne ich heute und mache mir voller Stolz über die hinzugewonnene Freiheit einen Spaß daraus, die vor meinem inneren Auge mal blasser, mal präziser erscheinende alte bebilderte Schatzkarte mit meinen eigenen Worten zu beschreiben. So, wie es schon viele andere vor mir taten. Ich lebe heute sehr gerne auf meiner Insel und kann sie nicht, will sie aber auch niemals wieder verlassen. Mary und die Kinder haben ihre eigenen Inseln und wir verbringen unsere Zeit meist zusammen auf einer der Inseln. Meist auf meiner, dort finden es alle am schönsten. Wir nennen unsere Inselwelt das Stuart-Archipel.

Und jetzt stelle man sich vor, da kommt ein sehr belesener Professor, der mir sagt, ich müsse mit ihm nach seiner detailliert durchbuchstabierten nihilistischen Schatzkarte, die meiner alten Schatzkarte sehr ähnelt, in die kalte Dunkelheit schwimmen, warum auch immer. Er findet tausend Gründe, zeichnet gerne Horrorszenarien. Der unangenehme Störlaut, den ich bei seinen Ausführungen instantan empfinde, stößt mich unzweideutig auf den durch seine gesamte Erscheinung getragenen, aus seinen Augen zu Tage tretenden Umstand hin, dass er noch nie im Ozean geschwommen ist wie ich, noch nie nach Orientierung rang wie ich und auch nie mit letzter Kraft am Rande der Verzweiflung seine eigene Insel gefunden hat. Er ist kein Schwimmer. Er ist kein Kämpfer und er bewohnt auch keine Insel. Wie soll er mit mir meine Vision entwickeln? Er lebt auf einem anderen Kontinent, in einer anderen Welt. Wenn ich mit in seine Dunkelheit schwimme, ist die größte Gefahr, dass er alleine durch meine Anwesenheit aus seiner derzeitigen Welt in eine andere kracht und ich ihn dann vor dem Ertrinken retten muss, weil er weder schwimmen noch kämpfen kann. Ich brauche keinen arbeitswütigen Professor, dem ich erklären muss, wie meine Inselgruppe aussieht. Ich brauche einen Don, einen Don wie Wilhelm Wallace. Aber auch diese Bezeichnung reicht nicht aus.“

John wusste, dass, wenn er einen Namen, den Mary und die Kinder bereits verwendeten, ändern wollte, er einen treffenderen Namen finden, mit Leben füllen und prägen musste. Also zog er sich zurück in seine innere und in seine äußere Bibliothek, studierte die alten Wissensquellen, um darin Anhaltspunkte für die Rolle zu finden, die Wilhelm ihm und seiner Familie gegenüber eingenommen hatte. Er fand nichts, aber auch rein gar nichts Passgenaues. Es war wie verhext. Tagelang schloss er sich ein, las die bedeutendsten Texte der Philosophen, Philologen und Psychoanalytiker. Er schwamm raus auf den Ozean. Nichts fasste Wilhelms Rolle präzise genug. Wie konnte das sein, John war davon überzeugt, dass es nichts gibt, was es strukturell gesehen noch nie gab. Für ihn fanden sich die alten Strukturen im Zeitgeist neu interpretiert wieder. Frischer Wein in alten harmonisch ausgewogenen Fässern. John geriet über diese Frage innerlich in Rage. Er verweigerte sich, Wilhelm beim Namen zu nennen, weder Wilhelm noch Professor, er fand immer eine grammatikalisch korrekte Formulierung, um ihn nicht beim Namen zu nennen. Er konnte nicht anders. Dem Wahren, Schönen, Guten. Bis zum Schluss.

Wenn die Kinder Wilhelm begrüßten und ihn Professor riefen, verließ John mit finsterer Miene das Zimmer. Die Störgeräusche verursachten stechende Töne in Johns Ohren, sie waren einfach zu laut, als dass er sie weiterhin lächelnd ertragen konnte. Am schlimmsten war für ihn, dass er sich mit niemandem ehrlich darüber austauschen konnte. Sollte er Mary sagen: „Ich habe da ein Störgeräusch im Ohr, wenn ihr Wilhelm Professor nennt? Sie würde mich zu Recht für verrückt erklären.“ Heute, nach langer Reise, würde John Mary alles ehrlich sagen und wüsste, dass sie seine Störgeräusche ernst nehmen würde.

Damals aber war es anders. Er fand keinen passenden Namen zu Wilhelms Rolle und John schien daran zu verzweifeln. Weder Mary noch die Kinder, weder Freunde noch Geschäftspartner, keiner konnte ihm helfen. Es war, als wäre er von dieser Welt aus nicht mehr erreichbar. Sie alle bemerkten eine untypische Unausgeglichenheit, mal war er da, mal war er weg. Er war wie ausgewechselt. Johns Zustand war allen ein Rätsel. Hinter vorgehaltener Hand erklärten diejenigen, die ihm ohnehin nicht wohlgesonnen waren, John für zumindest vorübergehend verrückt. John spürte genau, wer es war.

John aber hatte diesen Drang, einen passenden Namen für Wilhelm zu finden und war inzwischen auch bereit, gesellschaftliche Konventionen bewusst zu missachten. Die Frage hatte für John Vorrang. Nach Wochen des Suchens war John bereit, alles, was er hatte, jede zwischenmenschliche Beziehung aufs Spiel zu setzen, nur um diesen einen passenden Namen zu finden. Immer wieder kam dieser Satz in ihm auf: „Ich muss den Namen finden und er muss sich gut anfühlen, und wenn es das Letzte ist, was ich tue.

Wilhelm hatte die Situation lange eher aus der Ferne beobachtet und war als einziger innerlich sehr optimistisch. Denn er kannte den Weg, auf dem John sich gerade befand und er ließ ihn schwimmen. Denn jeder muss selbst und freiwillig an den Punkt. Hinweise sind erlaubt.

Also traf er John zum Mittagessen und sagte ihm: „Du zweifelst an mir. Es geht nicht um einen Namen, es geht um die Erfassung der zwischenmenschlichen Beziehung, um die persönliche Rolle in Verbindung zur Familie. Danach suchst du. Vielleicht willst du sie nicht zulassen. Vielleicht bin ich es nicht. Du spürst, dass diese Beziehung eine tieferliegende Ebene betrifft, die du aber bisher nicht freigelegt hast und nicht umfassend verstehst. Scheinbar sollst du die Informationen auf dieser Ebene freilegen, sonst wären die Impulse nach Weiterverfolgung der Suche abgeklungen. Um wieder in den Zustand einer ausgeruhten Mitte zurückzukehren, musst du einen Zugang zu dieser Ebene finden. Ich kann dir nicht sagen, wie du den Zugang findest, und noch weniger, was du auf dieser Ebene vorfindest. Alles, was ich weiß ist, dass du den Zugang finden kannst und wenn du ihn findest, sich dort die Schätze offenbaren, die du für deinen nächsten Entwicklungsschritt benötigst. Wenn du innerlich stark genug bist, wird sich dein Leben danach mit diesen Schätzen neu ausrichten und du wirst in den Zustand ausgeruhter Mitte zurückkehren.

Eins noch, die Personen, von denen du jetzt das Gefühl hast, dass sie dir nicht wohlgesonnen sind, schreib ihre Namen auf und was sie zu dir sagen. Das werden wir später im Einzelnen besprechen.

John war frustriert nach dem Gespräch. Dieses Gelaber. Er suchte konkrete Antworten, nicht abstrakte Erklärungen von Zugängen zu verborgenen Ebenen. Verschenkte Zeit. „Verdammt, ich habe mich getäuscht. Wilhelm ist der Falsche. Verdammter Wilhelm, wer bist du und was willst du von mir. Es ist wie verhext.“  

Es verging eine gewisse Zeit, in der die Stuarts und Wilhelm wenig Kontakt hatten. In dem Moment, als John in seiner verbitterten Suche endgültig zu scheitern drohte und er beschloss, nun von der Suche abzulassen, in dem Moment fand er den Zugang zu der Ebene, die Wilhelm ihm angedeutet hatte. 

John spricht heute anders über Wilhelm: „Wilhelm ist im Ozean geschwommen wie ich, er rang nach Orientierung wie ich und er hat seine eigene Insel gefunden. Er ist Schwimmer, Kämpfer und Archipel-Bewohner wie ich. Und seit einiger Zeit tauschen wir uns aus über die Bilder, die wir gesehen haben und leiten Strukturprinzipien daraus ab. Wir üben uns in freier Assoziation. Wilhelm ist handwerklich begabt, er hat Erfahrung wie man seine eigene Infrastruktur schneidert, seine Insel findet, sein Haus baut, ein Feld absteckt, wie man etwas sät, um dieses und jenes zu ernten. Wir tauschen uns darüber und über vieles andere aus. Durch diesen abgrundtief ehrlichen Austausch, bedarf es weniger Worte, um Vorstellungen zu kommunizieren. Produktive Infrastruktur. Der eine kennt die Welt des anderen auswendig wie die eigene Schatzkarte. Mary und die Kinder mögen ihn. Sonst würde ich es nicht machen. Das Stuart-Archipel und das Wallace-Archipel wurden, wie die Plattentektonik so spielt, mit hinreichendem Abstand auf demselben Ozean nebeneinander geschoben. Wilhelm Wallace ist mein Consigliere.“

Lilian: „Was machst du eigentlich hier in Boston?

Wilhelm: „Ich erkunde die Stadt und ihre Menschen.

Lilian: „Bist du im Urlaub?

Wilhelm: „Urlaub? Nein.

Lilian: „Bist auf der Reise?

Wilhelm: „Ja, das trifft es besser, ich bin auf der Reise.

Lilian: „Und wohin geht deine Reise?

Wilhelm sich selbst belächelnd: „Wenn ich das wüsste.

Lilian: „Jetzt mal ehrlich, warum bist du hier?“

Wilhelm: „Ich denke über das Leben nach, habe gar nichts im Sinn.“

Lilian: „Jetzt mal ernsthaft, was machst du denn beispielsweise Montag?

Wilhelm: „Ich stehe auf, wenn ich wach werde, frühstücke kräftig und fahre mit dem Fahrrad von Somerville nach Cambridge“

Lilian lachend: mit dem Fahrrad? Hier fährt doch keiner mit dem Fahrrad? Du bist ja witzig.“

Wilhelm: „und gehe dort in Gebäude, in denen Personen, die mich interessieren, über das Leben nachgedacht haben. Dann suche ich mir dort einen Platz, mache mir einen Kaffee und denke den ganzen Tag über das Leben nach.

Lilian schmunzelnd: „Und worüber denkst du dann konkret nach?

Wilhelm: „Schwer zu erklären. Ich suche nach Zusammenhängen.

Lilian interessiert: „Versuch es doch mal zu erklären, ich höre dir gerne zu.

Von unbewussten Bauplänen

Wilhelm spricht:  

 „Beispielsweise hab ich ein Bild vor Augen und versuche es mir zu erklären. Angenommen es gibt Menschen, die zumindest teilweise in Bildern denken und ihr Handeln nach diesen Bildern ausrichten. Beispielsweise werden sich nicht wenige Olympioniken vorstellen, wie sie auf dem Podest eine Medaille entgegennehmen und ein mit Zuschauern gefülltes Stadion applaudiert. Andere stellen sich vor, wie sie mit einem tollen Sportwagen eine teure Uhr tragend bei einem exklusiven Hotel vorfahren und dem Portier den Schlüssel des Sportwagens zuwerfen. Wieder andere stellen sich vor, wie sie mit ihrem Ehepartner auf der Terrasse ihres eigenen Hauses sitzen und den Kindern beim Spielen zuschauen. Angenommen unter diesen Menschen gibt es welche, die sich ihrer Bilder nicht bewusst sind, obwohl sie allem Anschein nach ihr Handeln auf Bilder ausrichten. Dann wäre die Frage, woher kommen die Bilder, wenn sie nicht bewusst gesetzt und erträumt wurden? Vielleicht kommen sie aus einem wie auch immer gearteten Unterbewusstsein. Angenommen in uns ist dieses Unterbewusstsein vorgeprägt durch die Erfahrungen unserer Vorfahren und durch sonstige teils vererbte sowie teils „zufällig“ zusammengewürfelte Merkmale der eigenen Person. Angenommen es wird im Laufe des Lebens weiter geprägt durch die eigenen Erfahrungen. Dann wäre dieses Unterbewusstsein eine Art sich ständig in gewissen Grenzen anpassender Bauplan für den jeweiligen Mensch. Angenommen dieser Bauplan wäre akkurater als wir ihn jemals bewusst zeichnen könnten. Angenommen die Aufgabe des einzelnen Menschen wäre es, das zu bauen, was nach diesem Bauplan vorgesehen ist. Dann wäre die Frage, wie wir uns diesen Bauplan vor Augen führen können. Angenommen unser Bewusstsein ist begrenzt und könnte den Bauplan niemals in seiner Gesamtheit erfassen. Der einzelne Mensch steht in einem dunklen Zimmer mit dem großen Bauplan und sein Bewusstsein ist eine kleine Taschenlampe, die es schafft, manche Details auszuleuchten. Angenommen die Menschen haben unterschiedlich scheinende Taschenlampen, die gemeinsam größere Teile der individuellen Baupläne beleuchten können. Angenommen sie entschließen sich, zu kooperieren und würden dabei bemerken, dass es nicht nur einen Bauplan für den einzelnen Menschen gibt, sondern, sobald sie gemeinsam in dem dunklen Zimmer stehen, ganz natürlich mehrere Baupläne miteinander in Berührung kommen und immanent die Frage auftritt, welcher Bauplan wie umgesetzt wird. Angenommen Menschen unterhalten sich über Jahrtausende hinweg, um zu erkunden, wie die Baupläne in gesunden Ausgleich gebracht und miteinander harmonisiert werden können, so dass jeder einzelne Mensch einen gewissen dynamischen Freiraum erhält, um seinen Bau zum größten dieser Zeit machen zu können, aber niemals, egal wie hoch geflogen und egal wie tief gefallen, niemals seinen Bauplatz verliert.

In dieser Diskussion wäre als Beitrag wenig zielführend, wenn ein Mob aus jungen Lichtern wild durcheinander brüllt, dass jeder Bauplan anders ist, aber alle standardisiert und bis ans Lebensende unveränderbar den gleichen quadratischen Bauplatz erhalten müssen, obwohl der Bauplan der kleinen Lampen eher kleine, sichere Bauten vorsieht und der Bauplan mancher großen Lampen dazu aufruft, den Versuch zu unternehmen, einen möglichst großen Bau zu errichten. Die Idee, auf welche die jungen Lichter sich berufen, wird weiterhin versucht umzusetzen. Sie führt allem Anschein und sämtlichen Geschichtsbüchern nach dazu, dass jeder Mensch, der seinen Bauplan verfolgt und nicht auf einen quadratischen Bauplatz passt, gar keinen Bauplatz im dunklen Zimmer erhält, sondern in einem Käfig eingesperrt wird und in diesem Rahmen „anders sein darf“.

Mein Großvater war in einem solchen Käfig. Er war im Gulag. Die Käfige waren und sind Realität. In der Sowjetunion unter Stalin, in China unter Mao, in Kambodscha unter Paul Pott und heute in Nordkorea unter Kim.

Nie wieder geht meine Familie da hin. Nie wieder Gleichmacherei!

Lilian: „Oh Wilhelm, dieses Feuer liebe ich an euch Männern. Mein Großvater war so, mein Vater war so und Willy war auch so. Weißt du, was wäre ein Willy ohne dieses männliche Feuer.“

Wilhelm: „Hör zu, Lilly. Nehmen wir an, die Taschenlampe wäre nur ein Weg, den Bauplan zu erkennen. Angenommen es gibt weitere. Angenommen Gebäude und Außenanlagen könnten erfühlt, im Traum gedeutet, über Intuitionen bemessen werden. Aufmerksame Menschen könnten durch Emotionen Informationen über den Bauplan erhalten, ohne sich diese im Detail bewusst machen zu müssen. Es muss also verschiedene Bewusstseinsebenen geben. Angenommen dort findet eine den Menschen nur ansatzweise bewusste Kommunikation über Sinneseindrücke und Emotionen statt. Angenommen sie geben uns Informationen über unseren Bauplan. Angenommen es wäre tatsächlich der Sinn und Zweck von Emotionen, dem einzelnen Menschen seinen Bauplan zu verdeutlichen. Das wäre was.

Lilian: „Aber manchmal führen Emotionen die Menschen in die Irre.“

Wilhelm: „Das stimmt. Es gehört zur Wahrheit, dass Menschen Emotionen bislang nicht lesen können und wenn sie ihnen blind folgen, sie sie in die Irre führen können. Emotionen verdeutlichen Details des Bauplanes, man muss sie einordnen können und im Zweifel mit dem Verstand korrigierend eingreifen. Sehr gut, Lilly.“

Von Netzstrukturen und Wellenbewegungen

Wilhelm spricht:

„Angenommen unter den Menschen gibt es welche, die sich primär als Teil eines Netzwerkes aus zwischenmenschlichen Beziehung verstehen, in dem sie ein Knotenpunkt sind, wie alle ihnen näher bekannten Menschen. Angenommen, diese Netzstruktur ist ständig in Bewegung, als würde sie auf dem Meer schwimmen und mit den Wellen des Lebens auf und ab gehen. Angenommen, diese Menschen beziehen alle Wellenbewegungen auf sich und denken, dass sie der Auslöser der Wellenbewegungen sind und vor allem, dass es ihre Aufgabe sei, die Netzstruktur insgesamt in einen ruhigen Zustand ohne große Wellenbewegungen zu bringen. Diesen Menschen kann es passieren, dass sich um sie herum mehrere zwischenmenschliche Beziehungen zeitgleich auf eine disharmonische Weise entwickeln. Diese Menschen empfinden das so, als ob um sie herum ein riesiger Sturm mit riesigen Wellen aufzieht, den sie nicht unter Kontrolle haben. Sie empfinden es so, als ob in ihnen aus mehreren Richtungen brechende Wellen aufeinanderprallen. Wer die Aktivitäten einer Welle unter Wasser gut beobachtet hat, der wird wissen, dass sich beim Aufbauen der Welle ein Unterwassersog entfaltet. Dieser Sog zieht Wasser dynamisch und mit hoher Kraft in Richtung Welle. Wenn sich nun mehrere Wellen aus verschiedenen Richtungen um einen bestimmten Knotenpunkt aufbauen und mehrere Wellen Unterwasser mit hoher Kraft Wasser in ihre Richtung ziehen, dann entwickelt sich ein Strudel. Diesen Strudel empfinden die genannten Menschen. Und er kann als so stark empfunden werden, dass sie denken, sich nicht dagegen wehren zu können. Er kann sie in die Tiefe ziehen. Die Frage ist, was können diese Menschen in einer solchen Situation tun.

Es ist offensichtlich, dass sie nur deswegen zu ertrinken drohen, weil sie sich als Teil des Netzwerkes verstehen. Von diesem Verständnis müssen sie sich, zumindest für eine Zeit lang, lösen und alle Verbindungen um sich, die sie wieder in solch bedrohliche Lagen bringen können, konsequent abschneiden. Kein Kontakt. Dann kann sich das Netzwerk theoretisch beruhigen. Der Sog verschwindet. Aber Vorsicht, durch jenes „Abnabeln“ haben diese Menschen dann, zumindest vorübergehend, weniger Verbindungen im Netzwerk. Es kann sich so anfühlen, ob als sie haltlos im Meer schwimmen. Es kann sich als Gefühl des Verlorenseins etablieren. Dieses Gefühl kann sehr negativ und destruktiv werden.  Aber es fühlt sich nur so an, sie schwimmen nicht haltlos, sie werden nur durch weniger Verbindungen im Netzwerk gehalten. Die Angst davor, alle Verbindungen zu verlieren und am Ende ganz alleine im Meer zu schwimmen, ist weitgehend unbegründet. Denn zuvor hatten sie ein Netzwerk, folglich können sie Netzwerke bauen.

Es kann sich für diese Menschen aber so anfühlen, als ob sie alles verlieren. An diesem Punkt müssen sie springen, sich allen Fragen ergebnisoffen stellen und das Universum bitten, ihnen ihren Platz zuzuweisen. Wenn sie dazu bereit sind, alle Verbindungen zu anderen Menschen und damit das für sie Wichtigste zu verlieren, dann werden sie durch Kräfte, die sich entfalten, wenn sie die wellenproduzierenden negativen Verbindungen innerlich „unpluggen“, in den Himmel geschossen. Sie fliegen haltlos durch die Luft.

Das Interessante ist, dass in dem Moment, in dem sie wieder im Meer landen, alle langfristig tragfähigen positiven Verbindungen sofort, viel stärker und viel intensiver wieder da sind. Zugleich kommen die negativen Verbindungen und wollen sich verbinden. Die Menschen wissen nun aber, welche Verbindung unkontrollierbare Wellenbewegungen und letztendlich den Sog auslöste. Die Menschen erkennen diese Verbindungen nicht nur, sie haben durch den Prozess des Neuverortens, des Implodierens ihres Netzwerkes, die Kraft die negativen Verbindungen konsequent abzuschneiden.

Dann erkennen sie, dass die negativen Verbindungen die Umstände waren, die sie vom Ausleben ihres Wesens abgehalten haben. Jenes Wesen kann sich nun entfalten und setzt die Kraft, die es vorher darauf ver(sch)wendete, die unkontrollierbaren Verbindungen zu kontrollieren, dafür ein, ein neues Netzwerk aus positiven Verbindungen zu kreieren. Dadurch strebt das gesamte Netzwerk in Richtung innerer Harmonie.

Diesen Menschen gelingt es spielerisch, mit geringster Kraftanstrengung, ihr Netzwerk in der von ihnen gewollten, langfristig leicht und ausgeglichen schwingenden Harmonie zu halten. Wird eine Verbindung negativ, haben sie Kraft die Verbindung abzuschneiden. Dann erkennen manche dieser Menschen, dass ihr Netzwerk Teil eines viel größeren Netzwerkes ist. Sie erkennen, dass ihr Netzwerk Auswirkungen auf dieses viel größere Netzwerk hat. Ihr Netzwerk kann das viel größere Netzwerk beruhigen oder es kann ständig große Wellenbewegungen hervorrufen, die sich durch ihre immensen Kräfte auf viele andere kleineren Netzwerke auswirken. Sie erkennen, wie unruhig das große Netzwerk an manchen Stellen ist und ständig unausgeglichene Wellenbewegungen hervorruft. Sie erkennen, dass nicht alle Knotenpunkte im Netzwerk ein Verständnis für das große Netzwerk haben. Manche denken, sie wären nicht mit dem großen Netzwerk verknüpft und kämen ohne Sog davon, obwohl sie ständig große Wellenbewegungen auslösen. Andere verstehen Teile des großen Netzwerk sehr genau, nutzen es einseitig als Schwungmasse, um nur für ihr Netzwerk die Schwünge zu produzieren, die sie gerne haben wollen, um nur für ihr Netzwerk die Wellen zu produzieren, auf denen sie gerne surfen.

Meist entwickeln die anfangs beschriebenen Menschen den Anspruch, nicht nur ihr Netzwerk auszugleichen, sondern es auch dazu einzusetzen, um die von anderen Netzwerken ausgehenden Wellenbewegungen auszugleichen. Gehen wir davon aus, dass auch du, Lilly, Teil eines kleineren Netzwerkes bist und zwingend Teil eines größeren Netzwerkes. Wie würdest du es ausrichten?

Lilian: „Jetzt kann ich dir gedanklich nicht mehr folgen, aber es hört sich gut an, was du sagst, vor allem fühlt es sich gut an. Ich würde mein Netzwerk so ausrichten, dass wir harmonisch miteinander schwingen, nicht zu langweilig, ab und zu würde ich für uns beide aufregende Wellen auslösen, die das große Netzwerk aber nicht allzu sehr belasten, also keine heftigen Wellen, nur zum spaßigen Surfen. Männer brauchen doch auch ein bisschen Abenteuer, oder nicht? Danach würden wir beide am Strand liegen, hinterm Windschutz.“ Lilly schaute Wilhelm schmunzelnd an.

Von Ideen und Emotionen

Wilhelm spricht:

Erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Jetzt weiter im Vortrag, du musst mir folgen!

Angenommen die unsere derzeitige Perspektive auf die Welt bestimmende Sicht, dass Personen Ideen bewusst wählen, ist nur eine Art menschliches Handeln in der Gemeinschaft zu kontextualisieren. Angenommen es gibt weitere. Angenommen Ideen nehmen uns Menschen ein und sind langlebiger als wir. Angenommen diese Ideen streiten miteinander, in uns, durch uns, indem sie uns Menschen einnehmen. Bei manchen ideologisch Verblendeten kann man es nicht anders bezeichnen.

Angenommen derjenige, der es schafft, die Idee, die ihn eingenommen hat, zu entschlüsseln und im Rahmen seiner Bewusstseinsebenen durch den Kampf mit dem Drachen in die richtige Ordnung zu bringen, würde dafür mit einem nach außen und innen deutlich sichtbaren Zustand der Übereinstimmung von Psyche und Physis belohnt. Angenommen dieser Jemand schafft es, diesen ästhetischen Zustand langfristig zu erhalten und dabei selbst kleinste Störgeräusche wahrzunehmen. Angenommen diese Störgeräusche deuten auf Fehler hin, Fehler im Sinne von nicht kohärenten Ausprägungen der Idee.

Angenommen die Idee selbst hat kein Bewusstsein und kann sich nicht hinterfragen. Angenommen hierfür benötigt sie den Menschen, der ein selbstkritisches Bewusstsein hat, dessen Aufgabe es ist, die Ideen in all ihrer Unvollkommenheit wahrzunehmen, innovativ zu interpretieren, sie auszuleben und zu abstrahieren, mit dem Ziel sie zu verfeinern. Angenommen die Ideen reagieren auf diese Kritik und passen sich an. Unter diesen Annahmen wäre in den menschlichen Bewusstseinsebenen ein selbstlernendes System zu finden, das in Abhängigkeit zu anderen Existenzen steht und sich ständig anpasst.

Dann müsste der Mensch einen Maßstab haben, an dem er die Ideen misst, wie soll er sonst Kritik üben. Die Frage wäre dann, was ist dieser Maßstab.

Angenommen dieser Maßstab sind unsere Emotionen, unser Bauchgefühl. Angenommen, das Bauchgefühl sagt den Menschen, ob sie im Einklang mit Strukturprinzipien leben, welche auch immer das sind. Dann bliebe festzuhalten, dass diese Strukturprinzipien zwingend langlebiger und konsistenter sind als wir Menschen. Angenommen unser Bewusstsein ist zu limitiert, um alle wirkenden Strukturprinzipien auf einmal zu erfassen. Angenommen unser Bewusstsein ist zu unterentwickelt, die Momente bewusst wahrzunehmen, in denen der Mensch sich in einem Zustand befindet, in dem er mit mehreren Strukturprinzipien im Einklang agiert. Angenommen die Übereinstimmung mit mehreren Strukturprinzipien könnte aber unbewusst, über Emotionen empfunden werden. Interessant ist, dass jeder Mensch solche Momente kennt, genau erinnert und wirklich jeder Mensch, egal wie enttäuscht und verbittert er ist, diese Momente wieder haben will und anstrebt. An diesen Momenten könnten wir also eine gemeinsame Vision ausrichten. Es wäre dann die Frage zu stellen, wie schaffen wir es gemeinsam, für möglichst viele Menschen möglichst viele dieser Momente zu schaffen.

Dann müsste der Mensch im ersten Schritt diese Momente in allen ihm möglichen Ausdrucksformen soweit erfassen wie es ihm möglich ist. Das wäre die Aufgabe all derjenigen, die solche Momente erleben und den Drang in sich spüren, die in diesen Momenten erkannten Strukturprinzipien mitzuteilen und dadurch dem Bewusstsein der Menschen näher zu bringen. Das ist eine schwierige Aufgabe, denn die Prinzipien sind dem Menschen gerade nicht bewusst, sie folgen auch keiner derzeit bewussten Logik, können (noch) nicht rational erklärt oder durchdacht werden. Sie können nur empfunden werden. Häufig werden sie erlitten, indem ein Mensch zuvor eine tiefgreifend negative Erfahrung macht, hierdurch seine Wahrnehmung schärft und dann in der Lage ist, diese Momente wahrzunehmen und darüber zu berichten.

Umso schlimmer ist es, wenn dieser Mensch im Einklang mit Strukturprinzipien agierte, aber ein anderer Mensch jegliche Strukturprinzipien missachtete und dieser andere Mensch ihn durch das missachtende Verhalten beeinflusste und ihn in den Abgrund blicken ließ, obwohl er alle Prinzipien beachtete und nach Gefühl agierte.

Diese kontroverse Situation führt zu der Erkenntnis, dass wir Menschen uns miteinander verbinden, so dass uns das Verhalten anderer Menschen beeinflussen kann. Denn nicht selten wird der Mensch, der alle Strukturprinzipien beachtete, mit in den Abgrund gezogen und muss alle seine Strukturprinzipien nochmal hinterfragen. Wie könnte das sein, wenn er nicht mit dem anderen missachtenden Menschen auf irgendeine Weise verbunden wäre. In dem Abgrund, der auch anders konzeptualisiert werden kann, beispielsweise als Bauch eines Walfisches wie in der biblischen Geschichte von Jona,  hinterfragt sich der Mensch bis auf die Grundfesten.

Dann kommt er an den Punkt, dass sein Bewusstsein zu limitiert ist, diese Fragen auf einmal zu erfassen und zu beantworten. Er schafft es nicht und scheinbar stürzt alles in ihm zusammen. An diesem Punkt gibt es zwei ganz grundsätzliche Reaktionsmuster. Die einen schaffen es, aus welchem Grund auch immer, nicht, sich von dem Sturz in den Abgrund, oder anders ausgedrückt, dem Bewusstwerden der limitierten Auffassungsgabe des eigenen Bewusstseins, zu erholen. Sie schaffen es nicht zurück auf den Weg, der den Menschen danach streben lässt, im Einklang mit den Strukturprinzipien zu agieren.

Andere dagegen schaffen es zurück.

Die Frage dieses Jahrhunderts ist, wie diese Menschen es zurück schaffen auf den Weg, der sie nicht nur aus dem Abgrund führt, sondern sie auch fortan mit Goldstaub umgibt, da sie in aller Regel ihr Bewusstsein derart ausgeweitet haben, dass sie auf eine Weise im Einklang mit den Strukturprinzipien leben, der vielen anderen mit ihnen lebenden Menschen mit deutlichem Abstand nicht möglich ist. Diese Menschen haben eine deutlich höhere Anzahl der beschriebenen Momente. Und wenn es tatsächlich so sein sollte, dass nahezu alle Menschen viele dieser Momente erleben wollen, dann sollten wir beobachten und systematisch versuchen zu verstehen, warum diese Menschen mehr davon haben als andere. Es ist als würden sie im Einklang mit dem Universum fließend wachsen.

Mich interessiert, was diese Menschen unten im Abgrund wieder auf den Weg bringt.“

Das Gemeinwohl im Selbstgespräch

Das Gemeinwohl und die Gemeinnützigkeit. Zwei Begriffe. Beide verstehen sich als Ideen. Die Idee des Gemeinwohls wandelt seit Jahrtausenden selbstzweifelnd durch die Köpfe der Gelehrten.

„Bin ich die Idee vom guten Zustand des Gemeinwesens und ein vom Volk aus zu definierender Zustand? Unterschiede man innerhalb politisch organisierter Gemeinschaften zwischen dem Gemeinwesen (Staat im weiteren Sinne) und der Herrschaftsorganisation (Staat im engeren Sinne), dann würde ich gewiss im Gemeinwesen wurzeln. Eigentlich habe ich nur das Wohlergehen der Bürgerschaft als Gesamtheit der Bürger in einer staatlich verbundenen Allgemeinheit im Sinn. Vielleicht bin ich Bewertungsmaßstab für Herrschaftsformen und vergebe das Prädikat „gut“, wenn diese auf den allgemeinen Nutzen und nicht primär auf den Vorteil der Regierenden (Vertreter des Staates im engeren Sinne) abzielen. „Allgemeiner Nutzen“. Gut, meine Verwandtschaft zur selbstsicheren Gemeinnützigkeit kann ich wohl kaum leugnen. Verwandtschaft sucht man sich nicht aus. Also grenze ich mich ab. Den Selbstzweifel, den habe nur ich. Er macht mich als Idee gerade und vor allem wegen meines vagen Anscheins unsterblich. In mir herrscht nicht eine Wahrheit, sondern viele Wahrheiten sind mit mir vereinbar. Deswegen sagen manche, ich wäre vor allem ein abstrakter Wert, ein Leitbild.

Ich dagegen sage dem, der mich für seine eigenen Zwecke nutzen will: egal wer mich wie sehr begehrt, Herr wird mir keiner!

Doch nicht verschweigen möchte ich, dass ich mich neben meiner Ausprägung als abstraktes Leitbild auch ständig konkretisiere. Für manche Gelehrte realisiere ich mich als Resultante eines geregelten Kräftespiels unterschiedlicher Interessengruppen im Nachhinein als Gemeinwohl a posteriori. Andere beschreiben mich als den tatsächlich vorherrschenden Interessenausgleich innerhalb einer Gemeinschaft. Ich bilde mich ständig neu und zeige, wie konkrete Interessenkonflikte gelöst werden.

Diese konkreten Momentaufnahmen haltet ihr in euren Geschichtsbüchern fest. Studiert sie gut, zieht Vergleiche, erkennt Wellenbewegungen langfristiger Entwicklungen. An manche Momentaufnahmen erinnern wir uns alle gerne, an andere ganz gewiss nicht. Die Frage ist, welche Strukturen führten uns an welche Orte. Seid aufmerksam. Vergleicht euer Leben mit dem Leben der Eltern, der Großeltern, soweit ihr euch erinnern könnt. Die allermeisten Fragen, die ihr als Probleme diskutiert, herrschten in abgewandelter Form schon unzählige Male vor. Die Kunst ist, die nächstabstraktere Struktur zu erkennen und zukünftige Entwicklungen abzuschätzen.

So finde ich mich derzeit in den schwierigen Worten der Gelehrten selbst kaum mehr wieder, der Intellekt der Gelehrten hat erneut vor lauter Arroganz den Boden unter den Füßen verloren, genau wie vor 500 Jahren und vor 1.000 Jahren und vor 5.000 Jahren. Die arroganten Gelehrten, deren Gedanken keiner mehr folgen kann, sie wollen sich nicht herablassen, gehen nicht mehr wirklich in unbekannte Dunkelheit, weil sie Angst haben, nicht mehr zurück zu finden, während andere, neue Gelehrte, die Worte finden, die jeder versteht. Ich aber, ich bleibe dieselbe abstrakte Idee, diene den alten wie neuen Gelehrten widerspenstig wie seit Jahrtausenden. 

An mir könnt ihr als Gemeinschaft fließend zu erträumten Orten wachsen. Ich kann euer gemeinsamer Traum sein. Gestaltet klare wehrhafte Regeln, aber engt mich und euch selbst in mir nicht zu sehr ein, wir alle brauchen Freiraum, um uns in ästhetischer Blüte zu entfalten. Richtet mich so aus, dass ich anpassungsfähig bleibe, dass wir uns gegenseitig korrigieren können, dass es meine oberste Prämisse ist, jedem Einzelnen und vor allem den Familien Freiraum und streng geschützte Intimsphäre zu gewährleisten.

Und dann wachsen wir gemeinsam im ständigen gewaltfreien Interessenkampf in ungefähr dieselbe Richtung. Wenn ihr das nicht wollt, kein Problem, ihr habt mich in der Hand, missbraucht mich, lasst mich außer Acht, strebt alle ellenbogen-egoistisch, unter Ignoranz sämtlicher Geschichtsbücher ausschließlich nach eurem eigenen Individualwohl. Bisher kamen alle, die meine Pfade verließen, reumütig auf Knien angekrochen und berichteten mir von schrecklichen Gewaltszenen.

Nun habe ich mir euer Grundgesetz zur Nachtlektüre vorgenommen und war ganz erzürnt. Da steht ja drin, dass ihr als Gemeinschaft vereinbart habt, einen Staat zu schaffen, der das Gewaltmonopol innehat, Recht soll herrschen und für jedermann gleich gelten. Das scheint gut zu funktionieren. Aber dieser Staat hat die Aufgabe, eine Idee von mir zu entwickeln, eine Idee davon, wie ihr in 10, 20 und 50 Jahren leben wollt. Euer oberstes Gericht hat diesen Gemeinwohlauftrag des Staates anerkannt. Aber nichts passiert. Keiner entwickelt eine Idee von mir. Keiner traut sich. Alles nur, weil ich missbraucht wurde. Es ist erstaunlich, so deutlich habe ich das kollektive Phänomen des Führerkomplexes noch nie gesehen. Jetzt liege ich hier, verloren, im Bauch der Bestie und keiner will mich befreien. Aber wenn mich keiner befreit, dann liege ich hier schutzlos und vielleicht werde ich wieder missbraucht. Vielleicht von der Bestie. Also rufe ich euch zu, um euch aufzuwecken aus eurem Dornröschenschlaf, ich rufe euch zu, so laut ich kann, legt eure komischen Geräte, die scheinbar von wem auch immer abhängig machen, nur für einen Moment weg, schaltet die Flimmerkiste nur für einen Moment ab, ich rufe euch Worte zu, die nicht ungewöhnlich sind, sondern die ihr alle kennt:

HILFE, HOLT MICH HIER RAUS!

Euer Staat hat die Aufgabe eine Vision von mir zu entwickeln und euch diese klar vor Augen zu führen. Alle berufen sich auf das Grundgesetz. Eine geniale Leistung. Die Leistung eurer Vorfahren. Ihr seid aufgerufen, es nun konservativ-innovativ zu interpretieren, weiterzuentwickeln, darauf eine Verantwortungsethik aufzubauen! Wer tümmelt sich da eigentlich in den von euch gewählten Gremien. Ich sehe es von hier nicht genau, aber warum haben so viele von denen einen kurzen braunen Hals? Vielleicht kommt das vom Wegducken und Hinternkriechen in den Jugendorganisationen? Übrigens, witzig finde ich die Bezeichnung „lupenreiner Demokrat“, denn wenn ich bei euch die Lupe anlege, sehe ich vieles, nur nicht das, was die Hühner legen. Scheinbar seid ihr mit Brot und Spielen zufrieden. Krise hier, Krise da. Ihr seid niedlich-naiv.

Gestern saß ich mit Platon auf der Höhle, rauchte im Sonnenaufgang Pfeife, rätselte über eure Taten mit Blick in die Weite. Da zog die schöne Europa vorbei und während Platon ihr nachschaute, sinnierte er: “Von Krise zu Krise, schöne Europa, wenn sie nur wüsste, was sie wollte, wenn sie nur wüsste, dass sie kostbar und begehrt ist, ich würde ihr all meine Weisheit schenken und mit ihr die Zukunft gestalten. Seit Jahren suche ich einen Weg sie anzusprechen, doch egal wie sehr ich nach ihr rufe, egal wie sehr meine Hände nach ihr greifen, sie bleibt unfassbar. Sie schaut mich an, mit diesen leeren Augen, sie spricht mit diesen vielen Stimmen, doch meine Ohren erreichen keine Laute. Es ist, als ob sie sich in sich weder sehen, hören, riechen noch schmecken kann. Ja, lebt sie denn? Ich weiß es nicht! Und fühlen, kann sie fühlen, hat sie Gefühle? Sonst macht doch alle die Liebe keinen Sinn, die ich ihr schenken will, wenn sie weder sich noch mich fühlen kann.“ Du armer Platon, verliebter Bengel, vielleicht solltest du sie herausfordern. Gehe hin und gestehe ihr deine Liebe, auf dass du enttäuscht wirst. Nur so kannst du sie zum Leben erwecken und nur so kannst du ihr deine Liebe schenken, mit ihr die Zukunft gestalten. Wirf ein Seil auf ihre Seite, lass sie es befestigen, tanze über das Seil, hebe sie hoch und trage sie auf Händen, tanze mit ihr in den Armen zurück über das Seil und nehme sie mit in deine Welt, auf das deine Welt auch ihre wird und ihr fortan zusammen lebt.“

Auf in die Dunkelheit

Wilhelm spricht:

„Und dann sprach Platon die schöne Europa an.

Platon: „Hallo Europa, wie geht’s dir?

Europa: „Entschuldigung, bin im Stress, muss den Laden hier zusammenhalten, ich kann jetzt nicht auch noch deine sexuell belästigende, frauenverachtende, herablassende Anmache aushalten. Sag es doch gleich, du willst mich auch nur vergewaltigen, wie alle Männer.“

Platon: „Ich bin heterosexuell und will als Mann Sex mit einer Frau.

Europa: „Also wenn du so weitermachst, rufe ich die Polizei. Ich lasse mich von euch Männern nicht mehr vergewaltigen. Damit ist ein für alle Mal Schluss.“

Platon: „Aber ich will nicht nur Sex. Das, was zwischen den Akten passiert, nennt man Leben.

Europa: „Mit dir leben? Was bist du denn?

Platon: „Ich bin Philosoph.

Europa: „Philosoph? Guter Witz, das ich nicht lache. Und warum sprichst du mich dann an? Ich bin Europa! Hallo? Ab in deine Tonne!

Platon: „Ich habe aber eine goldene Tonne.

Europa: „Wie, du hast eine goldene Tonne?

Platon: „Ja, ich habe eine goldene Tonne.

Europa: „Zeig mir mal deine goldene Tonne.

Ende. Beginn.

Europa: „Ach, Zeus, mein schöner rassiger Stier, dein Anblick erfüllt mein Herz mit Freude. Aber es ist nicht nur Freude, es ist auch, Feuer! Wo ist Hera?

Zeus: „In Sicherheit. Ich habe keine Zeit, kämpfe gerade gegen die Titanen.

Europa: „Wann sehen wir uns wieder?

Zeus: „Morgen ziehe ich mich nach Kreta zurück, um zu ruhen.

Europa: „Bis morgen.

Epilog

Nach diesem Erlebnis war Wilhelm ruhig und aufgewühlt zugleich. Er hatte dieses wohlige Gefühl im Bauch. Wo immer es herkam, er wollte mehr davon. Wohin sollte er fließen? Klar, wie immer nachmittags fuhr er ins Diesel Café, Davis Square, Somerville. Er wollte schreiben.  Dann plötzlich, als er das Cafe betrat, wollte er nicht mehr schreiben. Er ging in den Raum, sah diese wunderschöne junge Schwedin, setzte sich neben sie und sagte: „Hey, how are you? I´m William, but you can call me Willy“. Sie lachte aus vollem Hals. Nicht verlegen oder schüchtern, sie schmetterte ihm die ganze Fülle der weiblichen Begierde aus vollem Hals entgegen. Er sagte, er habe gerade zwei Stunden geredet, eigentlich habe er gar keine Lust zu reden.

Sie drehte ihren Oberkörper in seine Richtung, schaute ihn mit diesem einen Blick an und sagte: „Ok, let´s go.

An Tagen wie diesen.