Offenes Tagebuch

creative writing

 

Ronni Ribnitz: I can´t stop raving

 

0.

Einmal noch. Einmal noch Auflegen. Als die Anfrage vom Bassiani kam, schlüpften in Ronnis Bauch tausende Schmetterlinge. Einmal noch alles raushauen. Einmal noch Ronni Ribnitz. 12.05.2018, 0:23 Uhr, Bassiani, Tiflis, Georgien. Ronni mixt einen 90er-Hit in sein Set, Dune.

„I was sent to outter space
To find another happy place
Now I´m left here all alone
Million miles away from home
Floating through the galaxy
All the stars in front of me”

Für Ronni spiegelte sich in diesem Moment die Welt in dem brüllenden Bass der Boxen des progressivsten Elektro-Clubs der Welt. Wie damals, um die Wende. So fühlt sich Wachstum an. Auf geht’s, Bassiani. Blühe und wachse!

I.

Rückblick ins Jahr 2000. New Millennium. Spring. Rebirth of all kind. Freitag. Später Morgen. Ronni ist auf Arbeit. Er hat Hunger. Er geht zum Penny und holt sich eine Packung Frikadellen, dazu ein Brötchen und eine kalte Dose Eistee Pfirsich. Sparkling. Danach setzt er sich auf eine Parkbank in die Sonne.

SMS von Anja: „Gehst heut? Wollt hin.“

Ronni: „Nee, dann nicht.“

Anja: „Spaßt.“

Ronni: „Spaß. Überlegs mir.“

Anja: „Cool. Holst mich ab?“

Ronni steckt das Handy in die Brusttasche seiner blauen Latzhose, lehnt sich zurück, schließt die Augen und atmet tief ein. Freiraum. Nach einer gefühlten Sekunde nervt der Azubi.

Tilo: „Ronni, Alter, Freitag, wie geil, wieder schön ballern heut. Erst Feuerwehrfest, dann SportP, Alter, wird so geil Dicker. Dann heißt es wieder: The spring is my love, rebirth of all kind. I can´t stop raving, I can´t stop raving. Du kommst doch, oder? Anja ist auch da. Ich soll dich fragen.“

Ronni: “Weiß noch nicht. Muss noch Vaddern helfen.“

Tilo: „Alter, was los Dicker? Alle warten auf dich. Du musst kommen. Helen kommt auch. Ich hab ihr von dir erzählt. Du musst kommen, Dicker, alle kommen.“

Ronni isst seine Frikadellen, in sich gekehrt, eine nach der anderen. Dann nimmt er einen tiefen Schluck aus der kalten Dose, drückt seine innere Erfrischung mit einem zischenden „aaahhhhh“ aus, hält kurz inne und rülpst dann lauter als ein röhrender Hirsch in die Morgensonne. Einige der in der nahe gelegenen Bushaltestelle stehenden Passanten drehen sich erschrocken um.

Ronni dazu: „Boah, saftig, der hat gesessen.“

Passantin: „Ob das nu sein muss am hellichten Tach, also ehrlich!“

Ronni: „Hab ich dich was gefragt?“

II.

Ronni ist 1,90 m groß, hat 95 kg Kampfgewicht und schiebt in seiner gemütlichen Erscheinung eine ordentliche Plauze vor sich her. Meist trägt er T-Shirt, Pulli und Sportschuhe. Marke? Egal. Auf die Qualität kommt es an! Ronni würde es nicht zugeben, aber er ist eitel. Seine Klamotten liegen im Schrank auf Falte und wehe seine Mutter beabsichtigt, das Waschpulver zu wechseln. Er wohnt zu Hause. Wo sonst? Mit Eltern und Großeltern. Als seine Urgroßmutter vor ein paar Jahren starb, zogen seine Großeltern in den Urgroßeltern-Trakt, seine Eltern in den Großeltern-Trakt, er blieb im Eltern-Trakt. So ist das in Vorpommern, Familie eben, Mehrgenerationenhaus. Offensichtlich fehlt Ronni was, um den Eltern-Trakt auszufüllen. Dafür hat er aber noch Zeit. Er ist ein Mann. Druck erzeugt Gegendruck. „Späte-Buben“ gibt es nicht, „Späte-Mädchen“ schon.

Seine Familie heißt Fischer. So heißt man hier.

Ronni: „Vaddern fährt heut noch raus. Aber ist schwierig im Moment. Gehen alle in Supermarkt statt zum Kudder. Mit den Fischen verdienst kein Geld mehr heut. Vaddern meint, er zieht es durch bis zum Schluss. Finde ich gut, bin ja damit aufgewachsen. Ist auch ein Stück Geschichte, macht mich stolz. Wer weiß, was kommt. Manchmal fahr ich mit raus, wenn er Hilfe braucht. Von hier weggehen? Nö! Warum? Ist doch alles top hier. Ich hab noch nie kapiert, warum alle weg wollen, rüber in Westen, Hamburg oder so. Suchen die was oder flüchten die vor was? Keine Ahnung. Is mir auch scheiss egal. Lass sie suchen, lass sie flüchten, würd mich freuen, wenn sie finden. Sollen nur nicht angeschissen kommen, später, wenn sie nicht gefunden haben, und denn einen auf Kumpel machen. Is nicht. Denn heißts verpissen im Gelände und zwar dalli.“

III.

Mittlerweile ist es 13.00 Uhr. Ronni räumt die Baustelle auf, packt das Werkzeug fein säuberlich zusammen und sagt: „So Männer, Feierabend. Schönes Wochenende. Montag, 7.00 Uhr, is hier wieder Anpfiff. Und jetzt raus mit euch. Wer heut Abend zur Feuerwehr geht, wehe einer macht zu früh schlapp, wir haben nen Ruf zu verlieren. Benehmt euch. Wenn wir ballern, denn richtig.“

IV.

Als Ronni mit dem Bulli auf den Hof fährt, guckt seine Großmutter aus dem Fenster. Sie hat ihn schon erwartet und winkt. Ronni grüßt kurz ab und parkt den Bulli im Schuppen. Wochenende. „Moin Omma, alles palletti?“ Ronni geht zum Kühlschrank, macht sich ein kühles Bierchen auf und setzt sich an den großen Küchentisch im Urgroßeltern-Trakt, während seine Großmutter den panierten Heilbutt frisch raus brät. „Mhhh, Heilbutt, lecker, Omma, du bist die Beste.“

Oma Leni: „Ja nu, was soll ich machen. Vaddern hat ordentlich Fang gemacht heut Morgen, aber denn alles verkauft. Ich musst auftauen. War wohl ein Gastwirt aus Ahrenshoop da, wär neu inne Gegend und hat alles mitgenommen. Ab jetzt will er alles nehmen, was Vaddern reinfährt. Wer weiß, ob der übermorgen noch da is?“

Ronni: „Tja, wär schön. Die Saison wird er wohl durchhalten. Und wo is er in Ahrenshoop?“

Oma Leni: „Keine Ahnung, du, Vaddern hat wieder nur rumgeknurrt. Mir erzählt ja keiner was.“

Ronni: „Soll ich Vaddern noch helfen?“ 

Oma Leni: „Du, ich weiß von nichts. Der is mit Großvaddern los zum Baumarkt. Die spinnen schon wieder rum, wegen den Kudder, oder so, irgendwas mit de Netze, ich weiß es nich, was die da schon wieder bauen wollen. Mir sacht ja keiner was.“

Ronni: „Ach Omma, was los heute? Komm mal her. Ich erzähl dir alles. Was willst du wissen?“

Ronni nimmt Oma Leni in den Arm und drückt sie ganz fest an sich.

Oma Leni: „Ach mien Jung, is gut. Erzähl mal, wie wars heute bei dir auf der Baustelle?“

Ronni: „War in Ordnung. Sind heute fertig geworden, also unten, Montag geht’s oben los. In drei Wochen sind wir durch.“

Oma Leni: „Ja, muss auch. Inge will vermieten. Die Saison geht bald los.“

Ronni: „Ich weiß, Omma. Aber hexen kann ich auch nicht. Und halten soll es auch. Sonst heißts nachher, ich mach meine Arbeit nich. Mach dir man keine Sorgen. Das wird schon.“

Oma Leni lachend: „Sorgen mach ich mir nich, Ronni, du bist ja mien Enkel, da kann nix schief gehen. Wobei, wenn ich mir Vaddern angucke, den alten Knurrhahn. Der könnt auch mehr aus sich machen.“

Ronni wirft Oma Leni einen prüfenden Blick zu: „Geht alles seinen Gang, Omma! Lass uns nur machen!“

V.

Nach dem Essen legt Ronni sich auf das Sofa im Urgroßeltern-Trakt und hält Nickerchen, während Oma Leni in der Küche den Kuchen fürs Wochenende vorbereitet. Es dauert nicht lange, da tönt es aus der Küche: „Rooonnnii, schläfst du?“

Ronni: „Ja!!“

Oma Leni: „Draußen fahren sie mit den Getränkewagen lang, is heut Feuerwehrfest?“

Ronni: „Ach Omma, das weißt du doch!“

Oma Leni: „Na ich weiß ja nicht genau. Könnt ja auch was anders sein. Ich sehs nur grad hier.“

VI.

Ronni: „So Omma, war wie immer sehr lecker, ich geh ma rüber zu mir, ne. Wenn Vaddern Hilfe braucht, bin denn drüben.“

Oma Leni: „Nee, is gut, Ronni, geh du ma rüber. Ich sach ihm Bescheid denn. In zwei Stunden gibts Kaffe, denk dran. Heut Schwarzwälder-Kirsch-Torte, magst doch so gern, oder nich?”

VII.

Nachdem das große Umziehen auf dem Gehöft begann, hatte Ronni den Eltern-Trakt nach und nach umgebaut. Minimalistisch-modern im New Millenium. In der Wohnung findet sich nur, was er wirklich benötigt. Alle Schränke hat er mit einem befreundeten Schreiner maßangefertigt. Für die Ewigkeit. Volles Ribnitzer Holz. Voller Ribnitzer Stolz.

Detailbesessen war Ronni beim Ausbau seines Musik-Zimmers.

Ronni im Selbstgespräch in diesem Zimmer sitzend:

„Das ist mein Baby. So fühlt es sich an, wenn du etwas selbst gebaut hast. Die Boxen hängen gut, ich sitze voll im Stereo-Dreieck. Und die haben ordentlich Ressonanz-Raum nach hinten, damit der Bass dick brodelt. Drüben stehen die 1210er, old school halt. Für die Aufnahme-Kabine habe ich einen separaten Raum gebaut, Ständerwerk, nichts Dickes, von Innen die Schaumplatten. Mit dem richtigen Mikro wird der Sound schön knarzig-trocken. Kannst ja dann immer noch bearbeiten. Hab mich für Neumann Doppel-Membran entschieden, einfachstes Modell, für die Vocals vollkommen in Ordnung. Beim Mikro spart man nicht. In der Kabine ist auf Kopfhöhe eine riesige Scheibe eingebaut, damit man kommunizieren kann. Wer weiß, mit wem ich hier mal aufnehme. Fett, oder?“

Mit der Musik angefangen hat Ronni vor zehn Jahren. Er war damals auf der Suche. Irgendwie langweilte ihn alles, vor allem die Schule. Er wollte was Neues probieren. Musikalisch war er bis dahin nicht, bis heute kann er weder Instrumente spielen noch Noten lesen. Das war auch nicht nötig. Während vor zwanzig Jahren nur der als Musiker galt, der sich im jahrezehntelangen Musikunterricht bis zur scheinbaren Perfektion geknechtet hatte, kann heute jeder Musiker sein. Am Computer. Diese Revolution kam über Nacht. Freunde aus Berlin hatten Ronni Programme besorgt. Fruity Loops, später Cubase. Dazu ein Keyboard. Fertig war das Studio im Eltern-Trakt der Fischers auf dem Gehöft in Ribnitz. Die Schallwellen fliegen vögelnd von M-V in die Welt. Gut, es war nicht BMG in NYC, aber nicht weniger universal, vor allem nicht weniger innovativ und Innovationen überzeugen am Ende alle. Es sind Innovationen, die aus Ronni Ribnitz den neuen Damon Dash machen.

Durch die Programme konnte Ronni in sämtlichen Tonlagen abspielen, anders anordnen, mixen. Einfach ausprobieren. Spielwiese. Random. No Limits. Das hat ihn sofort fasziniert. Er brauchte nur Gehör und Geduld. Tausende Plug-Ins, tausende Möglichkeiten. Freiheit. Und er trieb die BPM-Zahl über die für heutige Menschen wahrnehmbare Leistungsgrenze. Tanzbar? Noch nicht! Flöten, Cellos, ganze Orchester. Wie Alice im Wunderland. In diesem Zimmer wurde aus Ronni Wolfgang Amadeus. Fischer. Rambow aus Ribnitz. Was zunächst surreal erschien, ihm und allen, sollte später wahr werden. BMG sollte anrufen.

Mit der Zeit hatte Ronni ein paar Sounds gefummelt und mit anderen vermischt. Vocals nahm er selbst auf oder schnitt sie aus anderen Songs. Anja war die Erste, die bei ihm am Mikro stand. Irgendwann entstand eine Sample-Datenbank, sie wuchs stetig. Er baute nun ständig neue Beats, erstmal nur für sich. Es war wie ein Handwerk. Er hat probiert, gehört, dann probiert und gehört. Aus Fantasie wird Realität. Aus fantastischer Selbstüberhöhung wird real erlebbares Feingefühl. Wer mal ernsthaft Mucke gemacht hat, den wird dieses Gefühl der Freiheit nicht mehr loslassen. Dieses Freiheitsgefühl auszuleben, ist für Ronni das Sinnvollste, was er jemals gemacht hat. Bis jetzt. Er durfte es noch. Damals hob er ab, nichts hielt ihn am Boden. Heute ist er bodenständig. Durch seine Höhenflüge entwickelte er Strukturbewusstsein. Heute steht er mit beiden Beinen auf seinem eigenen Boden. He found another happy place.

Sein erstes Tape schenkte Ronni seiner Freundin zum Geburtstag. Sie fand es scheisse. Knistern. Am Anfang hat er noch über die Boxen auf Kassette aufgenommen. Später dann das erste Tape-Deck mit Audio-Eingang. Sie hatte einen goldenen Walkman und immer eine Packung Batterien im Gepäck. Goldene Zeiten. Der Energiespeicher ist bis heute der Engpass. Die Kopfhörer sind mittlerweile schnurlos. Immerhin. Nur bei den Speichermedien und Abspielgeräten hat sich was getan. Erst gabs CDs und den Discman, dann war die Mini-Disc next level shit, bis der MP3-Player alles wegrasierte. Und dann kam der Ipod. Erst dann kam das Smartphone, als vorläufiger Abstraktionshöhepunkt, das alles in sich vereinte. Der Prozess dauerte nicht mal zwanzig Jahre. Das Musik-Geschäft im New Millennium. Umbruchzeiten. Die Musik geht immer voran. Globale Wirtschaften und globale Gesellschaften müssen folgen. Wachstum. Es bleibt ihnen nichts übrig. Einmal aufbrechen bitte, um die Vorherrschaft ringen, wieder vereinen und auf dem vorläufigen Abstraktionshöhepunkt bis auf weiteres verweilen. Bis der nächste Wachstumszyklus einsetzt.   

VIII.

Mittlerweile ist es 23.30 Uhr. Ronni sitzt seit acht Stunden gedankenverloren am Computer. Er hat drei Kannen Kaffee getrunken, war nicht zum Kaffee bei Oma Leni. Sie hat ihm, wie immer, ein Stück Torte weggestellt. Er wird es morgen essen.

Die ersten zwei Stunden waren furchtbar frustrierend. Er fand keinen Zugang, alles nervte ihn. Er skippte durch alle Tracks, die er gebaut hatte. „Scheiße, scheiße, alles scheiße!! Was bist du nur für ein Amateur. Wie lange machst du das jetzt, und immer noch nicht besser! Sechs, setzen! Zu schlecht. Einfach zu schlecht. Es reicht nicht, Ronni, es reicht einfach nicht! Wer soll das hören? Der Bass zu laut, die Snare zu leise. Was ist das hier, Ronni, was glaubst du, was das hier ist. Ein Vergnügungspark? Streng dich an, Ronni, du musst besser werden, es reicht einfach nicht!!“

Er ging zur Kaffeetheke und kochte die zweite Kanne. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn. Sein T-Shirt durchgeschwitzt. Er schaute in den Spiegel, minutenlang, atmete tief ein und schrieb dann auf einen der Zettel, die überall herumlagen:

„noch ein Zweifel und ich stecke meine Leidenschaft in den Sand!“

Der Kaffee war inzwischen durchgelaufen. Ronni trank zwei Tassen auf einmal und setzte sich wieder vor den Rechner. Er atmete tief ein und zählte bis sieben, sein Ritual. Auf geht’s.

Nach wenigen Momenten merkte Ronni die Veränderung, die schwere Last der Stunden zuvor fühlte sich nun irgendwie federleicht an, sie verwandelte sich in Flügel und gab Ronni Auftrieb als sich die Leiter in den Himmel der elektronischen Tanzmusik vor ihm auftat und der Zugang sich öffnete. „Hallo mein Schatz, wie geht’s dir?“ Wie ein erfahrender Baumeister nahm Ronni seinen Platz im Dachgiebel der Kathedrale ein, an der er dort oben seit Jahren arbeitete. Die ersten Akkorde. „Boah, heftig, wie geil ist das denn. Da muss ein pumpender Bass drunter. Ja, der ist gut. Schneller, Ronni, schneller. Versuch mal Arpeggio. Top! Mehr Hall auf die High-Hat! Und die Snare, klarer, weiter nach vorne, Ronni. Die muss rein knallen. An den Seiten ist wenig, Dicker. Links, rechts, da muss die Sonne aufgehen. Schneller, Ronni, schneller. Leg noch einen Clap drauf. Das ist gut, der ist gut, lass es so. Das fehlt noch was, es reicht nicht!“

Fünf Stunden später, Ronni steigt aus seinem Himmelreich hinab und ruft Anja an.

Ronni: „Anja, du musst kommen. Ich brauch deine Stimme!“

Anja: „Och Ronni, ich warte seit Stunden, Alter! Wo bist du, mein Süßer?“

Ronni: „Anja, du musst kommen, schnell!“

Anja erkannte die Dringlichkeit in seiner Stimme und sagte: „Bin in zehn Minuten da. Kuss!“

Ronni nahm sich einen Zettel und schrieb den Songtext auf, den er seit Stunden vor Augen hatte:

„Freude am Fluss“

Eine Stunde später, der Track ist fertig. Ronni hat die Spitzen drin gelassen, er mag die extremen Ausschläge, die Vertikalspannung in der Musik. Sie spiegelt seine Zeit. Er mastert kaum. Einfach raushauen, life und direkt, pur und echt. Er will alles sein, nur kein glibberiger Aal. Wie immer hat er Anjas Stimme kaum bearbeitet. Er liebt ihre Stimme. Er liebt alles an ihr. Er liebt sie für ihre Unkompliziertheit. Dafür, dass sie ihn sein lässt, wie er ist. Ronni Rambow aus Ribnitz. Es gibt ihn nur so.

„Danke.“ Ronni gibt Anja einen dicken Kuss. „Jetzt können wir zur Feuerwehr!“ Anja grinst ihn mit dieser gewissen inneren Aufregung, dieser einen Aufbruchsstimmung an, die entsteht, wenn das Leben eine unvorhergesehene Wendung nimmt, die so positiv ist, dass man aus der Tiefe weiß: das hier ist der Ort an dem ich zu dieser Zeit sein soll, egal was jetzt kommt, es wird gut, und deswegen bin ich offen und die Freude steigert sich dadurch, dass man in sich bemerkt, dass einen nichts beschränkt, dass man frei ist und die Früchte dieser Stimmung in all ihrer Fülle genießen kann. Diese Stimmung spiegelt sich in Anjas Augen, während sie in Ronnis Ohr flüstert: „Ich liebe dich!“ Ronni schaut sie an, hebt sie auf den Tisch und schläft mit ihr, während der Track weiterhin auf repeat läuft.

Zwei Stunden und zehn Drinks später sitzt Ronni gut angetrunken mit Tilo und den anderen bei der Feuerwehr. "Lass ma ins SportP!“ „Ja los, Bock drauf!“

Zwei Stunden später steht Ronni am Mischpult im SportP und hat die volle Tanzfläche vor sich. Die Lichtanlage stiftet strahlend Unruhe, die Rauchmaschine vernebelt die Sicht und Ronni dreht die erste Frauenstimme in die brüllenden Boxen. I can´t stop raving.

„Come and take a trip with me
To a land where love is free
Follow me into the light
Everything's gonna be alright
Just to go and take my hand
I will show you promised land
Stay with me in paradise
So our future can be nice”

Tilo rastet vollkommen aus. Er hat sich vor einer halben Stunde was eingeworfen und hat so viel Energie in sich, dass er Bäume ausreißen könnte. Er schwingt seinen Körper so schnell im Takt, dass andere aufmerksam werden. Er hat diese Ästhetik in seinen Bewegungen, das Fließende, diese feinjustierte Abstimmung zwischen Körper und Musik. Kein Blatt Papier passt dazwischen. Er ist on Track. Eine Stunde später geht Tilo durchgeschwitzt zu Helen. „Magst du was trinken?“ Helen grinst ihn verschmitzt an und nickt. „Na los. Lass vorher noch zu Ronni, ich stell ihn dir vor!“ Der Abend endet irgendwo im Nirgendwo. Für jeden woanders.

Zwei Wochen später. SMS von Anja: „Ich bin schwanger!“ Ronni: „Ich liebe dich!“

Zwei Monate später. Anruf von BMG. Ronni hat den Track mit Anjas Stimme seinen Freunden aus Berlin gezeigt. Sie haben ihn weitergeleitet. BMG hat Interesse.

SMS von Ronni: „Fahre Montag nach Berlin. Willst du mit?“

IX.

Die Welt nahm Fahrt auf. In Wirklichkeit holte sie nur Schwung. Sie wurde und wird noch viel schneller werden. Sie will fließend wachsen. Kreative kämpfen mit Keulen, versuchen Schritt zu halten, probieren aus, was es zu probieren gibt. Treten daneben, treffen ins Schwarze. Auf der Jagd nach der Stuckdecke im elterlichen Altbau. Doch der Fluss ist stark und er ist schnell. Wer sich zu weit vorwagt, wird mitgerissen, ertrinkt im ewigen Meer seines Fernwehs. Wer Musik verstehen will, der muss verstehen, dass Musik immer ein Versuch bleibt, unterentwickelt, ein unterbelichtetes Foto der Struktur fließenden Wachstums, eine Röntgenaufnahme, losgelöst von Raum und Zeit, tief in die Sonne blicken wollend, aber dazu nie fähig seiend, sich von vielen Seiten nähernd, nur die Struktur erfassen wollend, nachzeichnen wollend, was zuvor niemals gesehen, aber auf welche Weise immer erlebt wurde. Musik ist nur erahnte, unbekannte Struktur. Musik ist Kunst. Kunst ist ein Abbild unverstandener Struktur. Aufmerksame können sie finden. Und damit die wahrnehmbare Welt des heutigen Bewusstseins bereichern. Musik ist ein Prozess, der aus Surrealität Realität macht. Musik ist eine elektromagnetische Verbindung zwischen zwei Punkten, einem in der surrealen, unbekannten Welt und einem in der realen, bekannten Welt.

Diese Verbindung können wir in uns aufnehmen und uns dabei mit ihr identifizieren. Auf diese Weise kommunizieren unser Bewusstsein und unser Unterbewusstsein miteinander und tauschen sich aus. Wir sollten uns aufmerksamer beobachten. Uns ansprechende Musik spiegelt das Selbst. Man kann sich mit ihr über sich unterhalten. Wer Ronnis Beziehung zu Musik verstehen will, der muss verstehen, dass Musikstücke für ihn einen Versuch darstellen, eine erlebte Struktur dem menschlichen Bewusstsein näher zu bringen, erst dem eigenen individuellen Bewusstsein, dann dem Bewusstsein anderer, letztlich dem kollektiven Bewusstsein. In Letzterem finden wir wenige Musikstücke. So etwa Beethovens Neunte, Mozarts kleine Nachtmusik, Pachelbels Canon in D-Dur. Wer diese Töne hört, der weiß, da fließt was, da lebt was, von dem wir bislang keine bessere konkrete Vorstellung haben als diese Musikstücke in ihrer beschreibenden Funktion. Es sind unsere Versuche, die große Mutter zu beschreiben. Bachs H-Moll-Messe wird Katholiken seit Jahrhunderten feiertags ins Bewusstsein getrommelt, in der Hoffnung, dass wir zumindest diese eine Struktur verstehen. Doch der Baum unseres Bewusstseins wächst langsam. Musikstücke sind Versuche, eine ästhetische Verbindung zwischen Stradivari und Sonos, zwischen Energie-Input und Energie-Output zu finden. Die ästhetischsten Verbindungen sind die, welche die stärksten Energieströme zwischen den Polen herstellen, welche den ganzen Kosmos zum Schweigen bringen, indem sie verbinden, auch die, die sich nicht verbinden lassen wollen.

Manche dieser Verbindungen verebben nach wenigen Erlebnissen, andere haben so viel Energie in sich, beschreiben den Energiestrom so punktgenau, dass sie jahrhundertelang kaum Energie und Strahlkraft zu verlieren scheinen. Sterne. Als brachial-tobende Walzen, als vögelnde Einheit aus positiven wie negativen Energieströmen vertreiben sie alles andere in die Irrelevanz, pflastern tausende zweifelnde Ameisen mit offenen Mäulern in die Straße ihrer eigenen Nichtigkeit. Wer wann wie die Walze auslöst, ist vollkommen egal. Jeder sollte Platz dafür haben. Von Ribnitz bis nach Rio bis nach NYC. Oder wie Mic Master Marlow sagt, „von Rostock bis nach Gießen und den ganzen Weg zurück.“ Auch Ronni Rambow aus Ribnitz. Mittendrin im Fluss seiner Zeit. Selbst wenn er nicht der neue Beethoven ist, wer weiß es schon, ist er vielleicht der Stein des Anstoßes für den neuen Avicii oder er hilft Tilo, Helen zu erobern. Wäre das nicht genug für seinen Heldenstatus auf jener Welt in dieser Zeit?